PRODUKTION 11. Mai 2017 Stefan Asche Lesezeit: ca. 5 Minuten

Fit@work

Neue Technologien helfen einer alternden Arbeitnehmerschaft bei der Ausübung ihrer Jobs.

Die Handorthese der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) in Leipzig soll kraftvolles Zugreifen ermöglichen. Alle fünf Finger werden einzeln von Servomotoren unterstützt.
Foto: Ulrich Zillmann

Lucy greift mir von hinten sanft unter die Arme. Welche Wohltat! Der schwere Trockenbauschleifer fühlt sich plötzlich viel leichter an. Schultern und Arme werden spürbar entlastet. Endlich kann ich der Zimmerdecke den letzten Schliff geben.

Lucy ist ein Exoskelett. Es soll körperliche Arbeiten in Industrie und Baugewerbe erleichtern. Entwickelt wird das Unterstützungssystem von der Forschernachwuchsgruppe „Smart Assist“ an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Aktuell besteht es aus einer tordierbaren Rückenstruktur, der Armkinematik aus Aluminium, einem Pneumatiksystem, ein paar Bewegungssensoren und einer Steuerung. Angelegt wird es wie ein Rucksack. Zur exakten Anpassung an den Körper dienen Polsterschalen und Klettverschlüsse. Angeschaltet wird es mit einem Knopf im Schultergurt. Lucys Kraft lässt sich stufenlos über ein Drehregler einstellen.

Während der Arbeit erkennen abgestimmte Sensorikeinheiten, in welche Richtung ich meine Arme bewegen will. Je höher ich sie hebe, desto größer die Unterstützung. Senke ich sie ab, lässt Lucy mir sofort den entsprechenden Freiraum. Meine anfängliche Skepsis verfliegt. Dafür, dass Lucy und ich uns eben erst kennengelernt haben, arbeiten wir schon ganz gut zusammen.

Völlig mühelos ist der Job aber auch mit Lucys Unterstützung nicht. „Das ist volle Absicht“, erklärt Forschungsleiter Robert Weidner. „Wir wollen die Belastung nicht auf null reduzieren. Das könnte langfristig zu Muskelschwund führen. Wir wollen lediglich Überlastungen vermeiden. Die würden nämlich in körperlichem Verschleiß münden. Unser Ziel ist, dass der Werker fit ist – am Ende seines Arbeitstages ebenso wie am Ende seines Berufslebens“, so der 30-Jährige.

Während ich also allmählich ermüde, geht Lucy die Puste nicht aus. Kein Wunder: Ihre Lunge besteht aus zwei Pneumatikzylindern. In denen herrscht ein Druck von stolzen 300 Bar. Sie speisen kleinere Zylinder an den Gelenken. Zwischengeschaltet sind Druckluftminderer. Nachgefüllt werden muss das System – je nach Arbeitsintensität – erst nach etwa zwei Stunden. Dazu genügt ein handelsüblicher Druckluftanschluss. Noch dauert der gesamte Füllvorgang knapp eine Minute. „Wir implementieren aber gerade einen bedienerfreundlichen Schnellfülladapter. Dann geht das auch im Handumdrehen“, so Weidner.

Nach außen wirkt Lucy ziemlich hart, rabiat und steif. So, als wolle sie mich zu ihrer Marionette machen. Um so erstaunter bin ich, wie unaufdringlich und zielgerichtet sie mich unterstützt. „In der Recheneinheit steckt das Wissen darüber, in welcher Position der Mensch die meiste Unterstützung braucht“, erläutert Bernward Otten. Der 28-jährige Medizintechniker ist im Team unter anderem für die Produktions- und Regelungstechnik zuständig.

Noch bringt Lucy respektable 5,2 kg auf die Waage. Das gefühlte Gewicht des Prototypen ist aber geringer. „Die Belastung wird über die flexibel gestaltete Rückenstruktur in den Beckengurt eingeleitet“, erklärt Otten. Der breite, straff gepolsterte Riemen nehme auch alle von außen einwirkenden Kräfte auf.

Im nächsten Entwicklungsschritt soll Lucy trotzdem abspecken. „Durch Verwendung anderer Materialien können wir das Gewicht noch etwas reduzieren“, ist Weidner überzeugt. Der Tragekomfort soll außerdem durch einen cleveren Trick erhöht werden. Otten: „Wir wollen die aus dem System entweichende Luft zur Ventilierung des Rückenteils nutzen.“

Auch technisch reift das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte System stetig. Es lässt sich – je nach Arbeitssituation – im Sinne eines Baukastensystems erweitern. Weidner: „Wir können inzwischen zum Beispiel ein Modul ankoppeln, das erkennt, welches Werkzeug sich der Werker gerade greift. Die Unterstützungsleistung wird dann automatisch daran anpasst.“

Aber was ist, wenn der Werker keine Kraft mehr in den Fingern hat? Hier könnte eine Entwicklung der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) in Leipzig helfen. Ein Team rund um den Mechatroniker Frank Schmidt entwickelt gerade eine spezielle Orthese. Ursprünglich war sie für den Rehabereich gedacht. Jetzt erwägen die Sachsen aber auch eine industrielle Anwendung.

Die Orthese schmiegt sich wie ein maßgeschneiderter Handschuh um die Finger. „Die Führungen werden individuell gefertigt“, erläutert Schmidt. „Dazu werden die Hände des Nutzers zunächst gescannt. Mit den gewonnenen Daten füttern wir anschließend einen 3-D-Kunststoffdrucker.“

Alle fünf Finger werden einzeln von Servomotoren unterstützt. Pro Finger lässt sich eine Druckkraft von 11 N erreichen. Nach aktuellem Entwicklungsstand führen die Motoren lediglich ein vorab definiertes Programm durch. „Wir arbeiten aber bereits an situationsabhängigen Steuerungen“, so Schmidt. „Aktuell experimentieren wir beispielsweise mit Hirn- und Muskelströmen. Das System soll also mittels entsprechender Sensoren erkennen, wann der Nutzer welche Bewegung ausführen möchte.“

Denkbar sei auch eine vergleichsweise simple Druckerkennung. „Wenn der Nutzer einen bestimmten Griff ausübt, so verstärkt die Orthese einfach genau diesen.“ Umgekehrt könne das Gerät auch reglementierend eingreifen, wenn der Nutzer versehentlich zu fest anpackt.

Eine weitere Steuerungslösung könne auf einer Lage-Erkennung basieren. „Wenn die Orthese innerhalb eines räumlich definierten Bereichs genutzt oder in eine bestimmte Richtung geführt wird, so kann ein bestimmtes Bewegungsmuster initiiert werden.“

Die Energieversorgung der Orthese wird derzeit über ein externes Netzteil gewährleistet. „Alternativ denken wir über einen induktiv zu ladenden Akku nach“, so Schmidt.

Noch wiegt das Gerät rund 300 g. „Wir können das Gewicht aber eventuell noch reduzieren – etwa durch Verwendung anderer Materialien und hochwertigerer Komponenten.“

An Ideen mangelt es den jungen Forschern definitiv nicht. Wohl aber an Geld. „Das Projekt ist rein ehrenamtlich“, so der 34-Jährige. „Noch können wir die Ressourcen der Hochschule nutzen. Aber unsere Ausbildung endet bald. Wir hoffen, in Kürze einen Industriepartner zu finden.“

Bereits serienreif ist der „Chairless Chair“ der Noonee GmbH aus Wernau, Baden-Württemberg. Dahinter verbirgt sich ein Sitz, der seinem Nutzer auf Schritt und Tritt folgt. Er ermöglicht dem Werker, stets mit einer schonenden Körperhaltung zu arbeiten. „Was bisher in gebückter Haltung ausgeführt wurde, kann nun auch mit geradem Rücken erledigt werden“, erklärt Geschäftsführer Lars Schilling.

Das „Anziehen“ des Wearables ist einfach: Zuerst lege ich mir die Schultergurte um. Anschließend steige ich mit den Füßen in die „Schuh-Connectoren“. Dann muss ich nur noch den Hüftgurt schließen und zwei Klettbänder um die Oberschenkel legen. Fertig.

„Setzen Sie sich“, sagt Schilling unvermittelt. Ich bin skeptisch und schaue ihn fragend an. „Keine Sorge, das System ist bis 130 kg belastbar“, entgegnet der 42-Jährige. Also riskiere ich es. Ganz langsam lasse ich meinen Hintern auf die kleinen Sitzschalen herab. Kurz bevor ich in den freien Fall übergehe, arretiert das System. Ich sitze!

Aber es wackelt. Der Chairless Chair fühlt sich nicht gerade an wie ein massiver Barhocker – eher wie ein Gymnastikball. Schilling scheint zu ahnen, was ich denke. „Das ist aktives Sitzen“, erklärt er. „Wir wollen den Nutzern gar nicht jede Belastung abnehmen – das wäre nicht im Sinne der Ergonomen. Er soll seine Muskeln schon noch benutzen – aber eben in einer optimalen Haltung.“

Das Aufstehen ist erstaunlich leicht. Lediglich 3,4 kg bringt das Gerät auf die Waage. Die ersten Schritte sind allerdings gewöhnungsbedürftig. Das Gestell aus glasfaserverstärktem Kunststoff schlackert ein bisschen an den Beinen. „Sie tragen die falsche Fußbekleidung“, so Schilling. „Das System ist ausgelegt auf Sicherheitsschuhe, nicht auf Ledersohlen.“ Trotzdem verschmelze ich langsam mit meinem Sitz. Fast schon macht es Spaß, ihn zu nutzen. Allmählich dämmert mir, warum das System für den diesjährigen Hermes Award nominiert wurde. Ob ich mir einen Chairless Chair kaufe?

„Er lässt sich individuell anpassen“, wirbt der CEO. „Von 1,60 m bis 1,95 m Körpergröße ist alles möglich.“ Auch die Arretierhöhe sei variabel und schnell einstellbar. „Dank einer Master-and-Slave-Funktion genügt es, den Knopf an der Seite eines Beins zu drücken.“

Mein Interesse wächst stetig. Im Folgenden schwärmt der Kaufmann noch von der Memoryfunktion: „Der Sitz merkt sich stets die zuletzt eingestellte Höhe.“ Außerdem habe das System seine Praxistauglichkeit bei so namhaften Entwicklungspartnern wie Daimler, Audi, BMW oder Continental bewiesen.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich schon mit dem Chairless Chair bei der Gartenarbeit – verfolgt von den neidischen Blicken der Nachbarn.

Dann aber werden meine Träume jäh beendet. „Bei kleineren Abnahmemengen stellen wir 3750 € pro Stück in Rechnung“, offenbart Schilling. Wieder erkennt er offenbar, was ich als Privatmann darüber denke. „Hintergrund dieses vermeintlich hohen Preises ist, dass wir nicht nur das komplett ausgereifte Produkt verkaufen. Jeder Nutzer bekommt zusätzlich eine Schulung in seinem persönlichen Arbeitsumfeld. Außerdem bilden wir in jedem Unternehmen sogenannte Superuser aus, die neue Mitarbeiter in die Benutzung der Lösung einweisen können.“

Meine persönliche Enttäuschung erahnend, ergänzt Schilling: „Kleinen und mittleren Unternehmen bieten wir aber auch an, das System zu leasen. Dafür werden bis zu 108 € pro Monat fällig.“

Mir bleibt am Ende also die Frage, was ein schmerzfreier Rücken wert ist.

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