Mehr Raum für „kreative Gewächshäuser“
Die Digitalisierung und das Bedürfnis der Menschen nach persönlicher Entfaltung prägen die Debatte um Neue Arbeit, wie eine Tagung des VDI Wissensforums zeigte.

Hell und offen sind die Arbeitsplätze im VDI Wissensforum. Die Mitarbeiter gestalteten den räumlichen Wandel mit.
Foto: VDI Wissensforum
Es ist gut zwei Jahre her, da überraschten Timo Taubitz und Wolfgang Frech ihre Mitarbeiter mit zwei Botschaften, die im VDI Wissensforum reichlich Trubel verursachten. Botschaft eins sorgte für Unbehagen, Botschaft zwei für Aufatmen, bei einigen Kollegen sogar für Aufbruchstimmung. „Hier bleibt kein Stein auf dem anderen“, kündigten die beiden Führungskräfte zunächst an, um die Belegschaft umgehend wieder zu beruhigen: „Ihr seid alle eingeladen, den Wandel aktiv mitzugestalten.“
Für Taubitz und Frech stand fest: Es gibt kein Zurück mehr zu Zweierbüros. Kommunikationstötende Wände sollten im wahrsten Sinne des Wortes eingerissen werden. Während der vierte Stock des VDI-Gebäudes in Düsseldorf ausgehöhlt wurde, testeten die Mitarbeiter auf einem angemieteten Gelände die Möglichkeiten offener Arbeitsumgebungen. Küchen wurden gebaut, Besprechungs- und Scrum-Räume gezimmert. Letztlich setzte das VDI Wissensforum 90 % der Mitarbeitervorschläge um, es gibt Orte des Austauschs und der Stille. 80 % der Mitarbeiter finden die Umsetzung „gut“ bis „sehr gut“.
Für Jan Teunen, der für Unternehmen Raumkonzepte entwirft, sind Arbeitsumgebungen das A und O, um in Unternehmen die Basis für wirtschaftlichen Erfolg zu legen. Leider teile längst nicht jeder seine Meinung, bedauerte der Professor auf dem „New Work Event“ des VDI Wissensforums in Düsseldorf. „Vieles geht noch in die falsche Richtung.“ Wenn wirtschaftliche Effizienz die Gestaltung von Büros steuere, sei negativem Stress Tür und Tor geöffnet. „Menschen sind Schöpfer, die nicht funktionieren, sondern kreieren. Klassische Büros verwehren die Sehnsucht nach Potenzialentfaltung. Menschen brauchen ,kreative Gewächshäuser‘“.
Teunen forderte, die „Verbindung mit dem großen Ganzen wiederherzustellen“, soll heißen: Haus und Büro wieder als Kulturorte zu entdecken sowie Wirtschaftlichkeit und Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem Schutz für seine Bewohner zu verbinden. Teunen scheut nicht vor blumigen Worten: „Wir müssen die Räume mit Schönheit fluten, damit die Seele Nahrung bekommt.“ Wenn der Umbau von Arbeitsumgebungen nur als Deckmantel für Einsparungen diene und die Bedürfnisse der Belegschaft ignoriere, ginge der Schuss nach hinten los – und die Erkenntnisse einer wissenschaftlichen Studie wären untermauert: Demzufolge leisten 70 % der Beschäftigten in Deutschland Dienst nach Vorschrift, 15 % engagieren sich, der Rest hat innerlich gekündigt.
Einen Gedankenschritt weiter ging in Düsseldorf Roland Jeutter. Der Geschäftsführer der AVL Deutschland GmbH, einem Entwickler von Antriebssystemen, stellte die rhetorische Frage, ob Ingenieure in digitalisierten Welten überhaupt noch Büros brauchen. Statt Räumen könnten Planungskonzepte an Bedeutung gewinnen. „Künftig wird die Fähigkeit zur Selbstorganisation wichtiger.“
Die Akzeptanz offener Arbeitsumgebungen und neuer Unternehmenskulturen müsse aus der Arbeitsgruppe selbst kommen, meint Martin Hoffmann, Research Team Manager beim Technikkonzern ABB. „Jedenfalls sind solche Veränderungen nichts, was man den Mitarbeitern von oben überstülpen kann.“ Es bringe keine Kulturveränderung, wenn der Chef wie aus dem Nichts sein Jackett über den Stuhl wirft und in die Runde ruft: „Yeah, ab jetzt dürft ihr mich Dieter nennen.“ Konzepte, denen die Authentizität fehle, seien zum Scheitern verurteilt. Die Arbeitsplatzgestaltung, so Hoffmann, sei wichtig, „die meisten Innovationen werden bei uns aber immer noch an der Kaffeemaschine geboren“.
Ole Wintermann von der Bertelsmann Stiftung betrachtet das Thema aus der Sicht des forschenden Beraters. Er bemängelt das Fehlen einer digitalen Arbeitskultur. „Es reicht nicht, nur über Technik zu reden.“ Man müsse sie einerseits konsequent umsetzen, sie andererseits nicht losgelöst von neuen Geschäftsmodellen und Führungskulturen denken. Deutschland gelte als Innovationsweltmeister, verschlafe gleichzeitig aber die Digitalisierung. „Bei Social Media bewegen wir uns auf der Höhe von Senegal und Namibia, beim Thema Glasfaser auf Platz 66 weltweit.“
Auch bei der betrieblichen Rahmensetzung habe das Land enormen Aufholbedarf, so Wintermann. Dazu gehöre die Arbeitsplatzgestaltung. Nötig sei der Aufbau ambidexter Strukturen – Altes, das Sinn macht, bewahren und gleichzeitig Neues vorantreiben –, um Unternehmen zum beständigen Wandel anzuhalten. „Berufsbilder und Qualifikationen verlieren an Bedeutung, Tätigkeiten werden wichtiger.“ Das, so Wintermann, verlange von den Personalabteilungen, von klassischer Rekrutierung abzugehen und auch „schräge“ Bewerbungen zur Kenntnis zu nehmen. „Bekanntlich fürchten graue Mäuse bunte Vögel. Das muss sich ändern.“
Stures Hierarchiedenken stehe laut Wintermann den Bedürfnissen der Mitarbeiter nach Teilhabe und Akzeptanz entgegen. Das ließe sich über Nacht auch nicht überall ändern. „Kollaborations- und Empathiefähigkeit lernt man nicht von heute auf morgen, vor allem tun sich Menschen schwer, die mit Ellbogendenken groß und erfolgreich geworden sind.“ Sich in Großraumbüros „unters Volk“ zu mischen, um als Führungskraft Solidarität zu signalisieren, sei ein Ansatz, aber keine Lösung. Dem Pattex-Prinzip erteilt Wintermann eine Absage. Dauerhafte Führung ist für ihn ein Auslaufmodell, temporäre Führung könne besser auf Change-Prozesse in immer kürzeren Zyklen reagieren.
Mindestens ebenso viel wie für die Kopfarbeiter wird sich für die Fachleute in den Werkshallen ändern. Der Roboter wird zum Kollegen. Deutschland sei hier technisch sehr gut aufgestellt, übertreibe es aber mit seiner Gründlichkeit, meint Dirk Thamm, Geschäftsführer der Faude Automatisierungstechnik GmbH in Göttingen. Die Maschinenrichtlinien würden viel zu rigide und „rückwärtsgewandt“ ausgelegt. „In Deutschland muss alles hundertprozentig sein. Natürlich ist es theoretisch möglich, dass ein Mitarbeiter in eine Anlage springt, in der Praxis ist das aber nahezu ausgeschlossen. Selbstverständlich wollen wir die Arbeiter schützen, wir sollten sie aber nicht ,überbemuttern‘.“ Viele Unternehmen in anderen Ländern handhabten die Richtlinien lockerer und verschafften sich so Wettbewerbsvorteile.