Ethikrat-Vize 26. Jan 2021 Von P. Sieben und A. Weikard

„Voraussetzungen für eine Impfpflicht bei Corona derzeit nicht vorhanden“

Der Deutsche Ethikrat hat während der Corona-Pandemie Stellungnahmen zu vielen aktuellen Fragen erarbeitet: Wer wird zuerst mit einem Impfstoff versorgt? Wessen Leben wird gerettet, wenn die Kapazitäten auf den Intensivstationen nicht mehr ausreichen? Unter welchen Bedingungen ist eine Impfpflicht ethisch vertretbar? Volker Lipp, stellvertretender Vorsitzender des Ethikrats und Professor u. a. für Medizinrecht an der Universität Göttingen, erläutert im Interview mit VDI nachrichten, wie das Gremium arbeitet, welche Entscheidung ihn besonders anging und warum bei derzeitigem Forschungsstand niemand verpflichtet werden kann, sich impfen zu lassen.

Volker Lipp, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats und Professor u.8a. für Medizinrecht an der Universität Göttingen.
Foto: Deutscher Ethikrat/Reiner Zensen

Herr Lipp, in der Pandemie ist der Deutsche Ethikrat stärker in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Haben sich dadurch die Aufgaben und die Rolle des Rates verändert?

Im Grundsatz nicht. Wir sind als Ethikrat in Deutschland einer der wenigen weltweit, der auf einer gesetzlichen Grundlage arbeitet. Unsere Aufgaben sind damit im Gesetz festgeschrieben. Geändert haben sich aber die Rahmenbedingungen. Die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit ist im Zuge der Corona-Pandemie größer geworden, es werden viel öfter Fragen an den Ethikrat herangetragen.

Welche Aufgaben hat der Rat?

Der Ethikrat ist dazu da, Diskussionen in der Öffentlichkeit aufzugreifen und auch anzustoßen. Er berät die Politik. Eine ganz wichtige Aufgabe ist es aber auch, die Brücke zu anderen Ländern zu bauen, in denen ähnliche, wenn auch zum Teil recht unterschiedlich strukturierte Ethikräte existieren.

Der Wissensstand in der Pandemie verändert sich laufend. Welchen Bestand haben Empfehlungen des Rats unter diesen Bedingungen?

Gerade in den Lebenswissenschaften, mit denen wir uns hauptsächlich befassen, ändern sich die Erkenntnisse dauernd. Es gibt aber auch grundsätzliche Überlegungen, die Entwicklungen in der Forschung vorwegnehmen und weniger an den derzeitigen Stand der Wissenschaft gebunden sind. Ein Beispiel. Als 2019 bekannt wurde, dass ein chinesischer Arzt Veränderungen in der Keimbahn vornahm und so Menschen mit einer scheinbar „verbesserten“ genetischen Ausstattung zur Welt kamen, nahm der Ethikrat das zum Anlass, verschiedene Szenarien zu dem Thema durchzugehen. Welche Anwendungen der Keimbahnintervention sind denkbar, welche von vornherein ethisch unzulässig? Das ist auch wichtig für die Forschung. Sie kann sich so orientieren, in welche Richtung sie arbeiten kann.

„Durchaus möglich, dass ein Ingenieur in den Ethikrat berufen wird“

In der Regel bemüht sich der Ethikrat, eine gemeinsame Position zu finden und eine Empfehlung abzugeben. Wie findet die Entscheidungsfindung statt?

In der Tat müssen im Ethikrat Vertreter unterschiedlicher Disziplinen zusammenfinden. Experten für Fortpflanzungsmedizin treffen zum Beispiel auf den Vorsitzenden des Bundesverbands Mukoviszidose e. V., der aus Betroffenensicht agiert. Die Mitglieder sind auch ganz bewusst religiös und weltanschaulich pluralistisch. Bis hin zu den unterschiedlichen Biografien. Da ist es recht erstaunlich, dass uns dennoch in den meisten Fällen ein einstimmiges Votum gelingt. Manche Fragen können aber unterschiedlich beantwortet werden. In diesen Fällen ist es unsere Aufgabe, aufzuzeigen, wo diese Punkte liegen, damit die eigentlichen Entscheider sich auf diese Fragen konzentrieren können. Im Fall der Keimbahnintervention haben wir dazu einen regelrechten Entscheidungsbaum erarbeitet.

Gibt es im Rat üblicherweise gewisse Fraktionen? Falls ja, wodurch werden sie bestimmt?

In der Öffentlichkeit herrscht oft die Auffassung, im Rat ständen sich auf der einen Seite die Theologen, auf der anderen Seite die Juristen oder die Mediziner gegenüber. Das ist nicht der Fall. Es spielt auch keine Rolle, welchen politischen Hintergrund die Mitglieder haben. Unterschiedlich ist natürlich der Argumentationsstil. Ein Philosoph geht anders an ein Problem heran als ein Naturwissenschaftler. Ich denke, das ist so, weil wir alle aus dem Grund in den Rat entsandt wurden, dass wir über den Tellerrand unserer Disziplin hinausschauen können. Ein Schmalspurjurist, der nur sein Fachgebiet im Blick hat, würde von niemandem in den Ethikrat berufen.

Warum sitzt im Ethikrat kein einziger Ingenieur? Können die Ingenieurwissenschaften nicht zum Diskurs beitragen – jüngst erfolgten ja auch Stellungnahmen zu Themen wie Big Data oder Robotik in der Pflege?

Es ist gar nicht ausgeschlossen, dass ein Ingenieur in den Ethikrat berufen wird. Im Gesetz wird ganz allgemein von Fragen der Naturwissenschaften gesprochen, die im Rat zu behandeln seien. Bei der Datenethik, der Technikethik oder der Robotik wäre das also durchaus möglich. Es gibt allerdings auch andere Institutionen, die ähnliche Themen mit einem etwas anderen Schwerpunkt behandeln. Das Institut für Technikfolgenabschätzung oder die Leopoldina etwa.

„Moralisch ist jedermann verpflichtet, sich impfen zu lassen“

Markus Söder hat jüngst öffentlich eine Impfpflicht für Pflegekräfte gefordert und angeraten, dass der Ethikrat sich des Themas annehmen soll. Ist eine entsprechende Bitte an den Rat ergangen?

Grundsätzlich kann der Rat seine Themen selbst wählen, er kann aber auch Aufträge vom Bundestag oder der Bundesregierung erhalten. Diese Aufträge werden dann vordringlich behandelt. Meist geht es dabei um drängende Fragen. Das ist aber eher die Ausnahme.

Zur Impfpflicht wird also bislang noch keine Stellungnahme erarbeitet?

Wir haben uns dazu noch nicht geäußert, arbeiten aber laufend an relevanten Fragen im Zusammenhang mit der Pandemie. Es gibt allerdings eine Stellungnahme des Ethikrates zur Impfpflicht bei Masern. Prinzipiell sieht das Infektionsschutzgesetz diese Möglichkeit vor, das Grundgesetz steht einer Impfpflicht auch nicht entgegen. Bei Masern haben wir gesagt, dass moralisch im Grundsatz jedermann verpflichtet ist, sich impfen zu lassen, sofern nichts in der eigenen Gesundheit dagegenspricht. Die Frage, ob wir auch eine rechtliche Verpflichtung dazu einführen sollen, haben wir dagegen differenziert beantwortet.

Für eine Impfpflicht bei Corona sind die Voraussetzungen derzeit nicht vorhanden. Das setzt nämlich erstens voraus, dass ein Impfstoff allgemein verfügbar wäre. Zweitens müsste sichergestellt sein, dass die Impfung nicht nur beim Geimpften eine Immunität herbeiführt, sondern auch die Gefahr verringert, andere anzustecken. Wir können ja niemandem vorschreiben, welchen Gefahren er sich persönlich aussetzt, etwa beim Bergsteigen oder beim Extremsport. Eine Impfpflicht kann nur gerechtfertigt werden mit dem Schutz Dritter. Und solange wir so wenig wissen wie jetzt, ist die Voraussetzung, einen so starken Grundrechtseingriff vorzunehmen, schlicht nicht da.

Wolfgang Schäuble hat während der ersten Corona-Welle darauf hingewiesen, dass der Lebensschutz nicht das oberste Ziel bei den politischen Maßnahmen in der Pandemie sein sollte – und hat damit für Diskussionen gesorgt.

Was Herr Schäuble gesagt hat, ist ja nicht neu. Dass nicht der Schutz des Lebens unter Artikel 2 Absatz 2, sondern die Menschenwürde laut Artikel 1 das höchste Gut ist, steht nach unserer Verfassung fest. Das wurde vielleicht von manchen nur als neu empfunden. Wir haben als Ethikrat auch in der ersten Welle darauf hingewiesen, dass es neben dem Lebensschutz noch andere Güter zu schützen gilt.

Manche haben das vielleicht deshalb als Neuigkeit empfunden, weil sie den Eindruck gewonnen haben, der Schutz des Lebens sei an die erste Stelle gerückt.

Das ist aber eher ein Gefühl und eine Frage der Wahrnehmung. Um ein Beispiel zu nennen: Die aktuelle Diskussion über Homeoffice und Kita-Öffnungen zeigt doch ganz klar, dass es überhaupt nicht nur um Gesundheitsschutz geht. Denn dann würde man sagen: Wir machen radikal alles dicht, alle bleiben zu Hause, wir fahren alles zu 100 % runter. Aber genau das machen wir ja nicht. Zum Beispiel arbeiten Lieferdienste ja weiterhin, Supermärkte sind offen und in der Diskussion wird immer wieder abgewogen, ob die aktuellen Maßnahmen angemessen sind oder nicht.

„Wir sind kein Club von Professorinnen und Professoren, die aus dem Elfenbeinturm argumentieren“

Wäre der Ethikrat mit Laien besetzt, käme er zu ähnlichen Ergebnissen wie das Expertengremium?

Wir sind ja kein Club von Professorinnen und Professoren, die aus dem Elfenbeinturm argumentieren. Unter uns ist zum Beispiel ein praktizierender Arzt. Auch die kirchlichen Vertreter haben häufig enge Kontakte in die Praxis der Diakonie bzw. der Caritas und berichten, was sie von Pflegekräften aus den Einrichtungen hören. Von Immanuel Kant gibt es eine Schrift, die man in dem Zusammenhang empfehlen kann: „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“. In der Essenz steht da in etwa, dass hinter einer solchen Auffassung eine falsche Vorstellung von Theorie und Praxis steht. Nämlich, dass die Theorie völlig abstrakt und irrelevant sei, weil man in der Praxis ohnehin anders vorgehe. Aber eine Praxis, die nicht hinterfragt, warum sie etwas tut und ob man es nicht auch besser machen könnte, ist eine schlechte Praxis. Und eine Theorie ohne Reflexion der Praxis ist eine schlechte Theorie. Der Gegensatz zwischen beiden ist also häufig nicht so groß, wie manchmal unterstellt wird.

Aber es ist zum Beispiel keine Altenpflegerin in Ihrer Runde oder ein Malermeister.

Der Ethikrat soll kein Abbild oder Querschnitt der Bevölkerung sein. Wir sind ja kein Ersatzbundestag in kleinerer Runde. Wir sind als Experten berufen.

Welche Empfehlung ist Ihnen am schwersten gefallen?

Im Zusammenhang mit der Pandemie sind wir mit Fragen konfrontiert worden, bei denen auf der einen Seite das Leben und auf der anderen die wirtschaftliche Existenz vieler Menschen auf dem Spiel steht. Das treibt alle Beteiligten um. Und ich werbe immer um Verständnis für jene in der Politik, die ja letztlich diese schwierigen Entscheidungen treffen müssen. Schwer gefallen ist mir auch eine Empfehlung zum Thema „Hilfe durch Zwang“. Da geht es um gravierende Maßnahmen, Zwangsbehandlung, Zwangsunterbringung, Zwangseinweisung, zu denen wir dann sehr konkret sagten, ob und unter welchen Voraussetzungen es solche Maßnahmen geben darf. Das sind keine Entscheidungen, die man locker am grünen Tisch treffen kann, sondern bei denen man auch die Perspektive der Betroffenen einnehmen muss.

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