„Die Erholung in der Industrie wird sich länger hinziehen“
Ifo-Ökonom Timo Wollmershäuser erwartet eine Insolvenzwelle im Herbst. Die Mehrwertsteuersenkung hält er dennoch für übereilt. Im Gespräch mit VDI nachrichten warnt der Leiter der Konjunkturforschung und – prognosen im Ifo Institut außerdem davor, die Globalisierung zurückzudrehen.

Foto: Ifo Institut
VDI nachrichten: Herr Wollmershäuser, wie beurteilen Sie die Einigung auf dem jüngsten EU-Gipfel in Brüssel für die deutsche Wirtschaft ?
Wollmershäuser: Konjunkturell gesehen werden die Brüsseler Vereinbarungen keine großen Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft haben. Ihr größter Erfolg liegt darin, dass das Risiko einer Eurokrise – wie wir sie nach der letzten Weltfinanzkrise erlebt haben – jetzt deutlich reduziert worden ist. Im Unterschied zu damals hat man diesmal Solidarität mit den wirtschaftlich schwächeren EU-Ländern gezeigt: Man hat sich relativ schnell zu Hilfszahlungen bereit erklärt.
Die deutsche Wirtschaft ist coronabedingt im ersten Quartal 2020 um 2,0 % und im Folgequartal um 10,1 % gegenüber dem Vorquartal geschrumpft. Haben Sie das erwartet?
Wir haben im ersten Halbjahr 2020 die tiefste Rezession der Nachkriegszeit erlebt. Aber bereits im Mai hat eine Erholung bei Produktion und Umsätzen eingesetzt, die insbesondere im Einzelhandel überraschend deutlich ausfiel. Überrascht hat mich aber auch in den darauffolgenden Monaten der schnelle Anstieg der Stimmungsindikatoren, wie zum Beispiel des Geschäftsklimaindex, die eine recht schnelle Erholung in vielen Wirtschaftsbereichen nahelegen.
Das Ifo Institut erwartet in seiner Juli-Konjunkturprognose bereits im zweiten Halbjahr 2020 einen deutlichen Wiederanstieg des Bruttoinlandprodukts (BIP). Rechnen Sie mit einem V-förmigen Konjunkturverlauf, also nach dem konjunkturellen Einbruch mit einem ebenso kräftigen Wiederaufschwung?
Nein, das BIP wird nicht so schnell wieder steigen, wie es zuvor gefallen war. Die Erholung wird sich schon etwas hinziehen. Wir werden das Produktionsniveau, was wir vor der Krise hatten, so schnell nicht wieder erreichen. Das hat auch mit der weltweit agierenden Industrie zu tun, die sich in Teilen vergleichsweise langsam von der Krise erholt. Ich glaube auch, dass es mittelfristig zu Einbußen bei der Produktion kommen wird, weil eine Reihe von Unternehmen die Krise nicht überleben wird. Daher sprechen wir statt von einem V von einem Wurzelzeichen, um die weitere konjunkturelle Entwicklung zu symbolisieren.
Die Kauflaune der Konsumenten scheint ungebrochen
Nun mehren sich die Bedenken, dass wir womöglich eine zweite Corona-Welle bekommen könnten. Befürchten Sie, dass uns damit auch ein zweiter Lockdown droht?
Das Risiko einer zweiten Welle ist ernst zu nehmen. Wie darauf reagiert werden muss, hängt natürlich vom Infektionsverlauf ab. Anders als zu Beginn der Coronakrise sind nunmehr aber wichtige Erfahrungen im Umgang mit dem Virus gesammelt worden. Ich gehe davon aus, dass wir nicht noch einmal mit so gravierenden Eingriffen wie im Frühjahr rechnen müssen. Zum einen sind die Möglichkeiten der Identifikation von Neuinfektionen besser, zum anderen haben wir bessere Schutzmechanismen zur Eindämmung einer Ausbreitung. Eingriffe werden deshalb wohl regional und zeitlich beschränkter ausfallen und daher mit geringeren wirtschaftlichen Kosten einhergehen.
Wie beurteilen Sie die weitere Entwicklung der Industriezweige?
Die Erholung in der Industrie wird sich wohl etwas länger hinziehen. Zunächst waren die Unternehmen dort nicht so sehr vom Shutdown betroffen wie in anderen Wirtschaftsbereichen. Abgesehen von den Automobilherstellern, die ihre Produktion im April vollkommen einstellten, konnten sie in den sehr schwierigen Corona-Monaten März und April ihre guten Auftragseingänge aus der Zeit vor der Krise unter bestimmten Sicherheitsauflagen abarbeiten. Der Produktionsanstieg nach Ende des Shutdowns fiel aber bislang verhalten aus, da genau die Aufträge fehlten, die im März und April nicht mehr hereingekommen waren. Allmählich scheint sich die Auftragslage aber wieder zu verbessern. In unserer jüngsten Umfrage zum Geschäftsklima im Juli berichten erstmals wieder mehr Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes über steigende Aufträge. Der Grund hierfür dürfte sein, dass die Wirtschaft in den wichtigen Absatzmärkten langsam wieder hochgefahren wird. Sorge bereiten mir aber die USA und Großbritannien – zwei große deutsche Absatzmärkte –, wo das Infektionsrisiko bei Weitem noch nicht im Griff ist. Optimistisch sehe ich dagegen China, das sich tatsächlich V-förmig aus der Krise erholt.
Welchen Stellenwert schreiben Sie dem Konsum für die wirtschaftliche Erholung zu?
Nach unseren Befragungen stellt sich die aktuelle Lage im Einzelhandel heute bereits besser als vor der Krise dar. Der kräftige Anstieg der Umsätze unmittelbar nach Ende des Shutdowns ist vor allem deshalb überraschend, weil die Basis für die Einkommensentwicklung, der Arbeitsmarkt, sich eher schwach entwickelt. Wir hatten bisher einen relativ starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Und laut Bundesagentur für Arbeit kam es erst im Juli saisonbereinigt zu einem leichten Rückgang. Auch die Zahl der Kurzarbeiter erreichte im Mai ein Rekordniveau und geht seither nur langsam zurück. Trotz der damit einhergehenden Einkommenseinbußen scheint die Kauflaune der Verbraucher dennoch ungebrochen zu sein – selbst bei den langlebigen Konsumgütern, bei denen die Konsumenten in schwierigeren Zeiten normalerweise zuerst sparen.
Die Coronakrise trifft die deutschen Unternehmen härter als die Finanzkrise 2008/09
Worauf führen Sie das positive Kaufverhalten der Verbraucher zurück?
Dass sich der Einzelhandel seit Mai wieder kräftig erholt, hängt mit dem zuvor verhängten Shutdown zusammen, wodurch sich ein hoher Nachholbedarf ergab. Viele Verbraucher scheinen aber auch davon auszugehen, dass die Krise nur ein kurzzeitiges Phänomen zu sein scheint. Sie meinen, mit ihren Ersparnissen Einkommensschwierigkeiten überbrücken zu können und schränken ihren Konsum zunächst nicht ein. Die Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern könnte seit Juli aufgrund der Mehrwertsteuersenkung nochmals einen zusätzlichen Schub erhalten haben.
Die deutsche Wirtschaft hängt in hohem Maße vom Außenhandel ab. Gerade im außereuropäischen Bereich scheint es da erhebliche Schwierigkeiten zu geben. Während sich die Bestellungen bei deutschen Industrieunternehmen aus dem EU-Raum im Mai gegenüber dem Vormonat um knapp 30 % verbesserten, gab es aus dem übrigen Ausland nur knapp 2 % mehr. Wie lange wird diese schwache Entwicklung anhalten?
Hier liegt ein deutlicher Unterschied zur Finanzkrise 2008/09. Damals waren nur die Volkswirtschaften mit hoch entwickelten Finanzsystemen betroffen. Deutschland ist damals relativ gut durch die Krise gekommen, weil die Schwellenländer als wichtige Absatzmärkte deutscher Unternehmen von der damaligen Krise nicht betroffen waren. Heute haben wir es mit einem globalen Schock zu tun, der die weltweit agierenden deutschen Unternehmen umso härter trifft. Wie lange diese Entwicklung anhält ist ungewiss. Sie hängt vom medizinischen Fortschritt ab und davon, wie sich das Virus in diesen Ländern ausbreitet.
Die Globalisierung bereitet ohnehin Sorge. Regionalisiert sich die globale Wirtschaft zunehmend aufgrund der weltweiten Handelsstreitigkeiten?
Klar ist, dass die Globalisierung bereits seit Jahren nicht mehr zunimmt und mancherorts bereits zurückgefahren wird. Denken Sie dabei an den Handelsstreit der USA mit China oder der EU und den Brexit. Ich hoffe, dass die Corona-Pandemie nicht dazu benutzt wird, diese Entwicklung noch zu beschleunigen. Man will die Fertigung bestimmter Produkte nach Europa und damit auch Deutschland zurückholen. Aber was ist, wenn in Europa oder hierzulande Krisen ausbrechen? Wichtig ist doch letztlich, dass man so aufgestellt ist, dass man immer einen Produzenten oder Abnehmer durch einen anderen ersetzen kann. Durch die Globalisierung stellen sich Unternehmen und letztendlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besser, da sich die Geschäftsrisiken eines einzelnen Unternehmens verteilen.
Insolvenzwelle im Herbst
Nach Ifo-Umfragen zeigt sich, dass ca. ein Fünftel aller Unternehmen ums Überleben bangt. Spielt hier auch unzureichendes Eigenkapital eine Rolle?
In einzelnen Fällen mag auch zu wenig Eigenkapital eine Rolle bei den jetzigen Schwierigkeiten von Unternehmen spielen. Insgesamt aber hat sich die Eigenkapitalbasis der Unternehmen in den letzten Jahren deutlich verbessert. Wenn – wie in der Corona-Zeit – über mehrere Monate keine Umsätze mehr getätigt werden können, dann stoßen gerade kleinere Unternehmen schnell an ihre Überlebensgrenzen, denn die Umsatzrückgänge sind oft nicht mehr aufzuholen. Zwar hat die Bundesregierung den Unternehmen Liquidität zu guten Konditionen garantiert – aber vielfach auf Kreditbasis über die Banken, und die Kredite müssen aus den Umsätzen zurückgezahlt werden.
Ihre Umfragen deuten darauf hin, dass im zweiten Halbjahr eine größere Insolvenzwelle auf uns zurollen dürfte ?
Davon gehe ich aus. Die Frage ist, wie viele Unternehmen es letztlich treffen wird. Diese Krise erwischt schließlich Wirtschaftsbereiche, die sonst nie so stark von einer Rezession betroffen waren. Ich denke an den großen Bereich der Handels- und Dienstleistungsbetriebe. Die weitere Unbekannte ist, wie weit der Schutzschirm, den der Staat aufgespannt hat, den Unternehmen helfen wird. Sicher ist, dass die Insolvenzen die gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten reduzieren werden, sodass wir nicht auf das Produktionsniveau kommen werden, das wir Ende 2019 für die Jahre 2021 bis 2022 prognostiziert haben.
Eine kräftige Insolvenzwelle dürfte zu hohen Kreditausfällen bei den Banken führen. Sind die deutschen Kreditinstitute gewappnet?
Für Deutschland sehe ich keine größeren Gefahren. Nicht so sicher wäre ich mir da z. B. mit Blick auf Italien, dessen Bankensystem – auch hinsichtlich des Eigenkapitals – nicht so gut aufgestellt ist. Aber, und da komme ich auf den Anfang des Interviews zurück, die EU-Staaten haben diesmal in Brüssel für den Fall einer Krise eine gemeinsame Verschuldung akzeptiert und die EZB hat schnell reagiert, sodass die Refinanzierung der Banken derzeit kein Problem ist. Das sind wichtige Signale, um eine europäische Bankenkrise zu vermeiden.
Nachhaltige Erholung in vielen Wirtschaftszweigen erst, wenn ein geeigneter Impfstoff verfügbar ist
Ist das Konjunkturprogramm der Bundesregierung die richtige Antwort auf die Krise?
Es ist zumindest ein Programm, was dazu beiträgt, dass die konjunkturelle Erholung etwas schneller verläuft. Ob wirklich jede Maßnahme notwendig war, bezweifle ich. Der Staat hat im Vorfeld bereits viel getan, um die Einkommen der Haushalte, beispielsweise über eine Ausweitung der Kurzarbeiterregelung, zu stabilisieren. Bevor man zur Ankurbelung des Konsums zusätzlich die Mehrwertsteuer senkt, was dem Staat immerhin Steuerausfälle von 20 Mrd. € beschert, hätte man auch abwarten können, um zu sehen, ob die Konjunktur nicht von alleine anspringen wird. Richtig war hingegen, dass der Bund die Mittel für Investitionsvorhaben der öffentlichen Hand deutlich aufgestockt hat. Gerade den Gemeinden fehlt es derzeit an finanziellen Mitteln, da ihnen in der Krise die Einnahmen weggebrochen sind. Hier gilt es zu vermeiden, dass der Staat eine Konjunkturschwäche verstärkt.
Wann rechnen Sie damit, dass die deutsche Wirtschaft in etwa ihren Stand von vor der Coronakrise wieder erreicht haben wird ?
Wir gehen derzeit davon aus, dass das etwa Ende nächsten Jahres der Fall sein wird. Natürlich gibt es hier Unterschiede zwischen den einzelnen Wirtschaftsbereichen. Vor allem dort, wo Social Distancing weiter eingehalten werden muss, also bei den Anbietern von Dienstleistungen in den Bereichen Freizeit, Unterhaltung, Kultur, Beherbergung und Gaststätten, wird eine nachhaltige Erholung erst dann einsetzten, wenn ein geeigneter Impfstoff verfügbar ist.