„Inflation könnte in den kommenden Monaten bis auf 5 % steigen“
Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer lobt die Industrie im Interview mit den VDI nachrichten für ihre Anpassungsfähigkeit in der Krise, warnt aber auch vor Wachstumsrisiken durch Materialmangel und regionale Corona-Ausbrüche.

Die Preise steigen, die Zinsen bleiben dennoch niedrig. Für Anleger die denkar schlechteste Kombination.
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VDI nachrichten: Herr Krämer, die jüngsten Konjunkturdaten waren wenig ermutigend. Das Ifo-Geschäftsklima sinkt, laut GfK nimmt die Kauflaune der Deutschen ab. Fällt die erhoffte Erholung aus?
Jörg Krämer: Nicht unbedingt. Im zweiten Quartal hatte sich die deutsche Wirtschaft ja bereits kräftig erholt, das Plus beim Bruttoinlandsprodukt betrug gegenüber dem ersten Quartal immerhin 1,6 %. Und für das laufende dritte Quartal zeichnet sich ebenfalls ein starkes Wachstum ab. Aber Sie haben Recht: Wenn wir weiter nach vorne schauen, erkennt man dunkle Wolken am Himmel. Das Ifo-Geschäftsklima ist schon zweimal in Folge gefallen – vor allem die Geschäftserwartungen für die kommenden sechs Monate. Auch der Einkaufsmanagerindex ist gesunken. Ich erwarte, dass das Wirtschaftswachstum im vierten Quartal massiv nachlassen wird.
Woran liegt das?
Ein Grund ist natürlich die vierte Corona-Welle. In Deutschland sind immerhin 39 % der Bevölkerung noch nicht vollständig geimpft. Aber nicht alle Ungeimpften sind bereit, sich für den Besuch von Restaurants, Gaststätten, Fitnessstudios etc. nach den 3-G-Regeln testen zu lassen. Nach unseren Berechnungen dämpft das das Wachstum ungefähr um 0,5 %.
Rechnen Sie mit neuen Beschränkungen?
Manche Politiker neigen zu einem moralischen Rigorismus. Ich befürchte, dass die Corona-Regeln verschärft werden. So könnte die Möglichkeit entfallen, sich als Ungeimpfter freitesten zu lassen. Außerdem könnten die Beschränkungen auf andere Dienstleistungsbereiche wie den Einzelhandel ausgedehnt werden.
„Im Zweifel gibt die EZB mehr Gas“
Was sind weitere Wachstumsbremsen?
In China lässt die Konjunktur nach. Das wird insbesondere den deutschen Export belasten.
Einen Punkt haben Sie noch gar nicht erwähnt: die hohen Inflationszahlen. Immerhin gab bei der jüngsten Ifo-Umfrage jeder zweite Unternehmer an, die Preise erhöhen zu wollen.
Die Inflation ist zwar ein großes Thema, hat aber keine unmittelbare Auswirkung auf die Konjunktur.
Wenn die Zentralbanken reagieren und die Zinsen anheben vielleicht schon …
Dürften sie aber nicht.
Gab es in den USA nicht bereits Signale in diese Richtung?
Ja, dort schon. Die US-Notenbank möchte noch in diesem Jahr beginnen, ihre Anleihekäufe zu reduzieren, aber nur wenn sich die Wirtschaft weiter wie erwartet erholt. Außerdem dürfte es sich bis in den Herbst nächsten Jahres hinziehen, bis sie die Käufe vollständig einstellt. Dann kann es noch einmal ein Jahr dauern, ehe im Herbst 2023 die erste Zinserhöhung kommt. Das wäre eine ausgesprochen zögerliche geldpolitische Bremsung. Immerhin sind in den USA schon drei Viertel des coronabedingten Einbruchs bei den Arbeitsplätzen wettgemacht, und bei der Inflation steht eine Fünf vor dem Komma. Außerdem droht eine Blase bei den Immobilienpreisen.
Und wie könnte der Fahrplan bei der EZB aussehen?
Die EZB steht stark unter Druck durch die hoch verschuldeten Länder insbesondere im Süden der Währungsunion. Deshalb erwarte ich nicht, dass sie bald eine Reduktion ihrer Anleihekäufe beschließt. Ganz im Gegenteil. Sie dürfte die coronabedingte Konjunkturschwäche im vierten Quartal als Argument nutzen, um das Anleihekaufprogramm über den März 2022 hinaus zu verlängern. Im Zweifel gibt die EZB mehr Gas. Das bedeutet aber auch, dass wir im Euroraum in ein paar Jahren ein deutliches Inflationsrisiko haben.
Wie steht es um die hohen Rohstoffpreise – sind sie nur ein vorübergehendes Problem?
Wir glauben nicht, dass insbesondere die Metallpreise wieder zu den niedrigen Niveaus zurückkehren werden – schließlich setzt sich der wirtschaftliche Aufholprozess Chinas trotz der gegenwärtigen Konjunkturprobleme fort. Die Produzentenpreise sind bereits so stark gestiegen wie zuletzt in den 1970er-Jahren. Das schlägt auf die Verbraucherpreise durch. In den kommenden Monaten könnte die Inflation in der Spitze bis auf 5 % steigen.
„Es kommt weiter zu viel Geld in Umlauf und das dürfte die Vermögenspreise weiter nach oben treiben“

Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, erwartet in naher Zukunft Monate mit Inflationsraten von bis zu 5 % in Deutschland.
Foto: Commerzbank AG
Dazu kommen die hohen Frachtraten, die Vorprodukte verteuern. Wie bewerten Sie das Problem?
Auf der einen Seite ist es durch die Pandemie zu Störungen in den Lieferketten gekommen. Das sieht man insbesondere daran, dass die Frachtraten für verschiedene Richtungen sehr unterschiedlich sind, also etwa von Asien nach Nordamerika und umgekehrt. Das ist eine Spätfolge der Produktionsunterbrechung im vergangenen Jahr. Andererseits ist aber auch die Nachfrage nach Waren extrem gestiegen – seit Ausbruch von Corona etwa in den USA um 17 %. Solche Zuwächse sehen wir normalerweise über sechs bis sieben Jahre. Keine Industrie der Welt ist fähig, eine solche Explosion der Nachfrage innerhalb kurzer Zeit zu bedienen.
Warum ist das so?
Es gab großzügige Finanzspritzen für die US-Haushalte. Das viele Geld konnten die Bürger wegen Corona aber nicht für Dienstleistungen, also etwa für Reisen, ausgeben. Stattdessen haben sie ihre Nachfrage auf Waren umgeleitet. Das wiederum sorgte für den starken Anstieg der US-Importe aus China und hat die Frachtraten zusätzlich angetrieben. Die Frachtraten sollten sich etwas normalisieren, wenn die laufende Corona-Welle wieder abklingt.
Was bedeutet das für Anleger?
Der Markt gibt sich entspannt und glaubt der US-Notenbank, dass die hohe Inflation nur ein einmaliger Buckel ist. Das glaube ich im Übrigen auch. Denn wir sehen keine Beschleunigung der US-Arbeitskosten. Hierzulande hat der Lohnauftrieb während Corona sogar massiv nachgelassen, man denke nur an den sehr moderaten Metall-Abschluss.
Bedeutet, dass die Anlageklassen, die in der Vergangenheit bereits gut gelaufen sind, Immobilien und Aktien etwa, weiter steigen werden?
Es kommt weiter zu viel Geld in Umlauf und das dürfte die Vermögenspreise weiter nach oben treiben. Wenn wir in den kommenden Monaten etwa wegen Konjunktursorgen mal wieder fallende Kurse sehen, dürften die Anleger die Gelegenheit nutzen und zugreifen. Wir haben bereits nach der ersten Corona-Welle gesehen, wie schnell die Kurse wieder zu ihren Höchstständen zurückgekehrt sind.
„Der wirtschaftliche Aufholprozess, an dessen Ende China mit dem Westen gleichzieht, könnte viel länger dauern“
Wo sehen Sie die größten Gefahren für die Industrie?
Zunächst haben wir eine gute Ausgangslage, weil die Nachfrage grundsätzlich stark ist. Außerdem hat die Industrie sehr viel aus dem ersten Lockdown 2020 gelernt. Die Unternehmen haben da einen tollen Job gemacht, weshalb sie vom zweiten und dritten Lockdown kaum noch betroffen waren. Das spricht für die Anpassungsfähigkeit der mittelständisch geprägten Branche. Trotzdem sehen wir, dass die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe seit Jahresanfang leicht sinkt. Das hat vor allem mit dem Materialmangel zu tun. Wir wissen vom Ifo-Institut, dass sich mittlerweile 70 % der Unternehmen durch den Materialmangel in der Produktion behindert sehen. Die Industrie fällt damit im vierten Quartal voraussichtlich als Konjunkturmotor aus. Rückschläge drohen auch in Asien. Dort reagiert man strikt auf kleine Corona-Ausbrüche und macht ganze Regionen oder Häfen dicht. Wir müssen also mit weiteren Beeinträchtigungen der Lieferketten rechnen.
Sie haben die Industrie für ihre Lektionen aus der ersten Corona-Welle gelobt. China hat eine solche landesweite Welle gar nicht erlebt. Hat sich das ökonomische Kräfteverhältnis durch die Pandemie zugunsten der Volksrepublik verschoben?
Auf den ersten Blick ja. China hat als erste große Volkswirtschaft das Vorkrisenniveau beim Bruttoinlandsprodukt wieder erreicht. China hat aber andere Probleme. Die Regierung greift wieder stärker in den Markt ein, setzt etwa bei neuen Eigentumswohnungen Preismechanismen außer Kraft. Außerdem setzt China nach den Erfahrungen des Handelskonflikts mit den USA vermehrt auf Autarkie. Das alles kostet Produktivität. Gleichzeitig sinkt durch die Alterung der Gesellschaft auch in China die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Der wirtschaftliche Aufholprozess, an dessen Ende China mit dem Westen gleichzieht, könnte unter diesen Bedingungen viel länger dauern, als wir das vor Corona erwartet hatten.
Das Problem der alternden Gesellschaft haben wir auch hier. Kürzlich forderte der BA-Chef Detlef Scheele 400 000 Zuwanderer jährlich, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Sehen Sie darin ebenfalls eine Bedrohung für den Wirtschaftsstandort?
Wir müssen für ausländische Fachkräfte attraktiver werden. Viel zu häufig zieht es sie noch immer in die angelsächsischen Länder.
„Ich sehe nicht, dass die wirtschaftlich wichtigen Themen im Wahlkampf angemessen diskutiert würden“
Wo wir gerade über die politischen Rahmenbedingen sprechen: Wie schauen Sie auf die anstehenden Bundestagswahlen?
Ich sehe nicht, dass die wirtschaftlich wichtigen Themen im Wahlkampf angemessen diskutiert würden. Nehmen wir die Rente. Ohne Reformen werden sich schon in wenigen Jahren große Löcher in der Rentenversicherung auftun. Um sie zu stopfen, müsste der ohnehin hohe Anteil von Rentenzuschüssen am Bundeshaushalt weiter massiv ansteigen. Außerdem wird kaum diskutiert, wie wir die Schuldenbremse wieder einhalten können. Kaum eine Rolle spielt auch, wie die viel zu langen Genehmigungsprozesse für Infrastrukturinvestitionen verkürzt werden können.
Im Mai endete die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht. Statt der erwarteten Pleitewelle geschah aber – gar nichts. Wie ist das zu erklären?
Seit dem Jahr 2000 ist die Eigenkapitalquote der Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe von 27 % auf 32 % gestiegen. Am Vorabend der Krise war die Bilanzqualität also außerordentlich gut. Außerdem waren die Industrieunternehmen vom zweiten und dritten Lockdown nur wenig betroffen. Deshalb erwarte ich hier keine Pleitewelle. Nicht so gut sieht es dagegen bei vielen Dienstleistern aus. Gerade der letzte lange Lockdown hat viele massiv belastet. Wir sehen das nur deshalb nicht in den Insolvenzstatistiken, weil viele Dienstleister als Einzelkaufleute firmieren und nicht verpflichtet sind, eine Insolvenz anzuzeigen.