Technikfolgenabschätzung 09. Aug 2019 Stephan W. Eder Lesezeit: ca. 1 Minute

„Die Welt ist nicht schwarz-weiß“

Michael Sailer, Ingenieur, Nuklearexperte, Urgestein und Chef des Öko-Instituts, geht in den Ruhestand. Eine Tour d‘Horizon.

Porträt von Michael Sailer
Der Ingenieur hält die Welt am Laufen – Michael Sailer, bis 31. Juli Chef des Öko-Instituts, bevorzugt eine lösungsorientierte Debatte.
Foto: Öko-Institut

VDI nachrichten: Herr Sailer, was macht das Öko-Institut aus?

Michael Sailer: Wir sind primär motiviert durch die Nachhaltigkeit. Wir machen Wissenschaft, um die Nachhaltigkeit und die Probleme zu verstehen – sowohl die technisch-wissenschaftlichen Themen wie die Probleme bei der Umsetzung.

Nehmen wir das Beispiel CO2: Es geht erst einmal darum zu verstehen, was steigende CO2-Mengen in der Atmosphäre bedeuten. Dann aber geht es darum zu verstehen, dass „CO2“ auch eine Metapher ist: Methan hat zum Beispiel einen viel höheren Treibhausgaskoeffizienten, auch wenn bisher davon weniger emittiert wird.

Michael Sailer
  • Sprecher der Geschäftsführung des Öko-Instituts (seit 2009) bis zum 31. 7. 2019
  • Vorsitzender der Entsorgungskommission seit 2008
  • Mitglied der Expertengruppe Reaktorsicherheit des Eidgenössischen Nuklear‧sicherheitsinspektorats seit 2012
  • beim Öko-Institut seit September 1980
  • Diplom-Ingenieur (1976 bis 1982) in Chemie, Vertiefungsrichtung Technische Chemie, TH Darmstadt
  • Befassung mit Sicherheitsfragen der Kernenergie seit 1975. 

Das heißt auch im Kopf zu haben: CO2-Sparen allein hilft nicht. Man muss immer auch an Methanleckagen denken, weil man sonst vielleicht größere Auswirkungen auf das Klima übersieht. Genauso stand „CO2“ ganz lange nur für Treibhausgasemissionen aus Kraftwerken, also aus der Stromerzeugung, – vom Verkehr war nicht die Rede. Das war ein Wahrnehmungsproblem in der Öffentlichkeit, natürlich haben wir das in unseren Studien schon richtig auseinandergelegt.

Das eine ist also, die Nachhaltigkeitsaspekte naturwissenschaftlicher Sachverhalte oder die Produktionsaspekte technisch darzulegen. Das andere ist die Durchsetzung und Umsetzung von notwendigen Änderungen; mit der wir uns auch befassen.

Es geht also um das Spannungsfeld Wissenschaft – Technik – Gesellschaft, wie jetzt in der Klimadebatte.

Als wir 1980 das erste Energiewendebuch geschrieben haben – den Begriff „Energiewende“ haben wir mit diesem Buch geprägt –, da haben wir uns damals schon um Governance gekümmert. Wie kann es zur Energiewende kommen, haben wir uns gefragt. Welche Spieler könnten Träger einer Umsetzung sein? Bei welchen Spielern ist die Position eher unklar?

Ganz oft denkt man ja: Es gibt nur bösen oder guten Willen. Aber die Realität zeigt: Es gibt Spieler in einer Gesellschaft, die behaupten, sie müssen jetzt ihren Profit maximieren oder bestehende Anlagen möglichst lange auslasten. Sie seien ihren Aktionären gegenüber verantwortlich. Inzwischen weiß ich auch, dass ein Teil der Leute, die das sagen, das auch glaubt. Also muss man da ran und dafür sorgen, dass solche Leute durch marktwirtschaftliche Anreize, durch Preisgestaltung oder durch Ver- und Gebote, also z. B. Gesetzesänderungen, andere Spielregeln bekommen.

Haben Sie ein Beispiel?

Der Einspeisevorrang für Ökostrom war notwendig, weil zum damaligen Zeitpunkt die marktbeherrschende Lage der großen und mittleren Energieversorgungsunternehmen sonst dazu geführt hätte, dass die den Ökostrom einfach nicht abgenommen hätten. Deshalb haben wir kräftig an der Debatte zu diesen Regeln mitgewirkt.

Wir mussten immer die verschiedenen Problemlagen verstehen. Was sind die Einflussfaktoren von naturwissenschaftlich-technischen Systemen, aber eben auch der gesellschaftlichen, administrativen und finanziellen Systeme? Eine solche übergreifende Betrachtung machen nicht viele, und das ist ein wesentlicher Grund, warum das Öko-Institut gebraucht wird, und warum man es auch heute neu gründen müsste, gäbe es uns nicht. Der zweite Grund ist, man muss multidisziplinär arbeiten, um Probleme wirklich zu erkennen und Lösungen zu entwickeln: Dabei reicht es nicht, interdisziplinär mit Wissenschaftlern verschiedener Richtungen zusammenzuarbeiten. Denn wenn Forscher nur unter sich arbeiten, gibt es ein Problem, dass man in der folgenden Haltung wiederfindet: „Das Objekt der Forschung versteht nicht, wie es sich verhalten soll.“ Nein, man muss auch transdisziplinär arbeiten.

Das heißt?

Man muss verstehen, was die Leute antreibt. Das bekommt man nur mit transdisziplinärer Forschung hin: Man muss mit Stakeholdern, Spielern, wie immer man es nennen will, direkt zusammenarbeiten. Das ist zentral für uns und wir haben in den letzten vier Jahrzehnten ein Team zusammengeholt, in dem fast jede Disziplin, die man heute studieren kann, vertreten ist.

Wir haben nach wie vor viele Kolleginnen und Kollegen aus den Ingenieurwissenschaften und Naturwissenschaften, aber auch eine ganze Menge mit sozialwissenschaftlicher, wirtschaftswissenschaftlicher oder rechtswissenschaftlicher Ausbildung. Sie alle arbeiten nicht nebeneinander hier, sondern das normale Projektteam bei uns ist kreuz und quer zusammengesetzt.

Was macht denn so ein Jurist bei Ihnen?

Der Jurist macht dann mal Fluglärm und dann mal wieder Raumplanung, oder wie gehe ich mit Nanomaterialien um. Der bleibt in seinem juristischen Arbeitsfeld, aber er hat viel Naturwissenschaften und Technik gelernt. Das spezifische Problem von Nanomaterialien ist zum Beispiel, dass da kleine Mengen und große Oberflächen eine ganz andere Physik und Chemie im Vergleich zu dem gleichen Stoff als Nicht-Nanomaterial bewirken, was sich auf die Gefährdungslage auswirken kann. Unter Juristen aber heißt der Stoff trotzdem gleich. Also muss man in der Gesetzgebung und der Normsetzung hingehen und diesen Unterschied dort hineinbringen.

Man muss es juristisch greifbar machen?

Juristen sind traditionell quantitativ organisiert. Und was „wenig“ ist, ist halt „wenig“. Dass „wenig“ aber ein ganz anderes Verhalten verursachen kann – und nicht nur einfach „weniger“ ist vom Bisherigen – das ist kein Standard im juristischen System. Und das ist bei der Frage nach der Nanotechnologie dann ein Aspekt, den man berücksichtigen muss.

Bei der Abschätzung von Folgen und Auswirkungen einer Technologie auf eine Gesellschaft gibt es viele Unwägbarkeiten. Wie gehen Sie damit um?

Da gibt es ja die großen Fundamentalisten, die sagen: Wenn ich nicht genau weiß, was es für Folgen haben kann, darf ich es nicht machen. Das ist eine schöne Forderung. Aber sie ist absolut unrealistisch, weil die Gesellschaft sich einerseits anders verhält, und andererseits: Bei 95 % der Sachen, über die man nichts Genaues weiß, besteht keine große Gefahr. Die Kunst ist, die wirklich kritischen 5 % herauszufiltern. Die Gesellschaft wäre noch nicht einmal in die Jungsteinzeit gekommen, wenn sie immer fundamentalistisch agiert hätte.

Das Herangehen ist sehr systematisch. Wie sieht das in der Praxis aus?

Wir erarbeiten uns die Sachverhalte und Zusammenhänge selbst, wir interagieren mit anderen Institutionen, schauen uns viele Forschungsergebnisse an. Nehmen wir mal Risikoszenarien für eine gefährliche Chemieanlage. Unter welchen Umständen kann es hier welche Arten von schweren Unfällen geben? Natürlich passiert das nicht jeden Tag. Aber wenn es passiert: Kann das halt im Umkreis von 300 m etwas kaputt machen oder gibt es auch denkbare Fälle, bei denen im Umkreis von 10 km oder noch weiter schwere Schäden möglich sind? Dazu muss man genaue Szenarienanalysen durchführen. Wichtig ist aber auch die Frage: Wie viel Schadenspotenzial ist überhaupt vorhanden oder ist einfach nicht genug da, um größere Schäden anzurichten? Daraus ergeben sich auch Obergrenzen der möglichen negativen Auswirkungen.

Beruhigt das denn dann, wenn Sie so etwas sagen?

Die Angst ist immer da. Es ist ein Grundproblem, dass nur wenig quantitativ gedacht wird. Natürlich gibt es eine Reihe von Leuten, die mit Geld umgehen, die sehr genau quantitativ arbeiten. Aber diejenigen Risiken, die nicht monetarisiert werden können, können viele nicht einschätzen.

Dann gibt es Leute aus der wissenschaftlichen oder technischen Praxis, die in der Lage sind, eine vernünftige Einschätzung zu machen, wenn es um ihren Bereich geht. Bewegt sich das Thema aber außerhalb des eigenen Bereichs, fängt das auch bei vielen solchen Leuten an, schwierig zu werden. Denn in Wirklichkeit ist man sich nur sicher auf einem Gebiet, in dem man sich wirklich auskennt.

Erfahrung ist dabei, diese kritischen 5 % herauszufinden, eine sehr wichtige Komponente?

Ja, das wird unterschätzt. Das steht in keiner wissenschaftlichen Untersuchung. Aber man weiß: Erst, wenn ich „Geländekenntnisse“ habe, die in meinem Gebiet liegen oder an mein Gebiet angrenzen, dann kann ich mich quantitativ mit den Dingen beschäftigen.

Wir reden von Risiken. Wir müssen die 95 %, wo es nicht oder wenig gefährlich ist, von den 5 %, wo es gefährlich ist, trennen. Vielleicht gibt es aber auch noch 10 % Grauzone. Dazu müssen wir halbquantitativ abschätzen können – eben mit dem, was ich „Geländekenntnisse“ nenne. Ich sage jetzt bewusst: abschätzen. Weil man immer wissen muss, welche Vereinfachungen in einem Modell enthalten sind und welche Effekte das Modell übersieht, weil sie dort gar nicht abgebildet sind. Auch mit solchen Abschätzungen haben wir langjährige Erfahrung.

Das heißt: Eine Modellrechnung hat von der Berechnung her einen gewissen Grad an Belastbarkeit, aber auch einen gewissen Grad an Belastbarkeit von den Annahmen her, die im Modell stecken. Wie belastbar das konkret ist, dafür muss man ein Gefühl entwickeln. Das tun wir in unseren internen Projektsitzungen oft, indem wir lauter blöde Fragen stellen. Auch damit haben wir gelernt, wie wir die Glaubhaftigkeit eines Modells testen.

Wieso ist das wichtig?

Viele Modellierer und auch Nicht-Modellierer glauben inzwischen alles, was aus Modellen rauskommt. Die Realität und die Modelle werden nicht auseinandergehalten. Wir haben aber gelernt, zu fragen, was ist nicht in die Modelle hineingegangen und was ist daher jetzt auch automatisch nicht mit drin?

Was wurde also systematisch übersehen?

Oder: Was wird nicht abgebildet? Selbst ein total ausgefuchstes Klima- oder Wettermodell hat in sich Unklarheiten und es gibt externe Unklarheiten.

Moment – haben also jene recht, die sagen, Klimamodelle könnten nicht richtig funktionieren und daher könne das nicht stimmen?

Diese Modelle haben wie alle Modelle Unschärfen. Unschärfen heißt aber nicht, dass die Modelle keine vernünftigen Ergebnisse liefern, sondern das heißt: Diese Modelle liefern Bandbreiten von Ergebnissen. Und eine der großen Künste ist es, zu sagen: Wo liegt die belastbare Bandbreite? Die Aussage: „Der Klimawandel ist menschengemacht“ – die stimmt in der Reinheit nicht. In der letzten Zwischeneiszeit waren die globale Durchschnittstemperaturen 2 °C höher als heute. Wenn wir die Emissionen also abgebremst bekommen, könnte es so werden, wie es in der letzten Zwischeneiszeit war.

Aber: Das heißt jetzt für uns nur: Es gibt auch andere Effekte, die das Klima beeinflussen. Das heißt aber nicht, deshalb kann ich noch mal zehn Sack draufschmeißen. Denn das ist ja das, was die menschengemachte CO2– oder Methan-Freisetzung macht. Da müssen wir auch klar sagen: Selbst wenn ein Teil der Klimaerwärmung von Effekten stammt, die es auch in der letzten Zwischeneiszeit gegeben hat – wir legen menschengemacht so viel zusätzlich drauf, dass das weiter ausschlägt. Nummer eins.

Nummer zwei: Als ich als Neandertaler unterwegs war, war mir das relativ egal, ob der Meeresspiegel 20 m hoch- oder runterging, es wurden halt die Jagd- und Sammelgebiete verlegt. Es gab damals ja keine Millionenstädte am Meeresufer. Heute ist es eigentlich nicht wichtig, wo genau die Durchschnittstemperatur hingeht, sondern dass ganz viel von dem, was menschliches Wirtschaften bedeutet, nur in bestimmten Temperaturbereichen und den davon bestimmten Küstenlinien und klimatischen Verhältnissen funktioniert. Wenn wir die Niederlande verlieren, dann hat die Menschheit erst einmal einiges ihres in Infrastruktur steckenden Kapitals, das sie über Jahrhunderte angesammelt hat, verloren.

Was sagt einem dann ein Modell?

Man muss in die Interpretationsbreite gehen. Modelle sind nie schwarz-weiß – wie die Welt nicht schwarz-weiß ist. Man hat bei den Ergebnissen ein sicheres Band, ein halbwegs sicheres Band – und außerhalb des halbwegs sicheren Bandes haben wir auch ein Quatschband.

Beispiel Endlagerung von Nuklearabfällen: Da sagen die Leute immer, man könne doch gar nicht wissen, was in 1 Mio. Jahren passiert. Doch! Ich kann an vielen Stellen der Welt gültige unscharfe Aussagen machen. Nicht für die Gesellschaft, die dann existiert, auch nicht für die Lebewesengesellschaft, die es dann dort geben wird; aber für die Geologie und die Geländeform auf jeden Fall.

Ich kann zum Beispiel davon ausgehen, dass der Oberrheingraben in den nächsten Millionen Jahren ein Stück weiter absinkt, auch dass er ein Stück kippt. Nicht genau, wie er kippt, aber man kann eine grundsätzliche Aussage machen. Für die Endlagerung haben wir ja eine geologisch stabile Region gefordert, und man kann schon eine Aussage machen, ob für eine Region heftige geologische Änderungen unklarer Art zu erwarten sind – oder eben nicht.

Wie hat sich der gesellschaftliche Diskurs über technisch-naturwissenschaftliche Themen in den letzten Jahrzehnten geändert?

Was sich ändert, ist die Perzeption der Gesellschaft. Wir als Öko-Institut sind von krassen Außenseitern vor 40 Jahren zum Mainstream heute geworden. Ich habe vor Kurzem in einem internen Treffen gesagt: „Leute, wir sind jetzt Mainstream. Das Gefährliche ist, wenn wir nur noch Mainstream-Gedanken hätten. Wir sind aber dafür da, dass wir Fragen stellen, die unbequem sind.“

Welche sind das?

Eine der unbequemen Fragen, die kurzfristig akut sind, ist: Wie bekommt man die notwendigen Änderungen im Verkehr hin? Das ist unbequem, weil das so multifaktoriell ist. Das ist unbequem für die Autonation Deutschland. Für die wird das dann schwierig und in aller möglichen Hinsicht gefährlich. Ohne Weiterentwicklung zu neuen Technologien manövrieren wir uns kurz- oder mittelfristig aus. Und dann passiert uns das, was dem Industrieland England passiert ist. Das gibt es nämlich heute nicht mehr.

Der Diskurs hat sich auch gefühlt geändert. Früher hatte ich einen feindseligen Artikel in der Werkszeitung eines Kernkraftwerksbetreibers. Heute hat man Tausende Tweets, und das nicht nur einmal. So etwas kommt, und es mischen dann ganz viele Leute schnell mit. Ich bin ein Freund davon zu sagen: Reagiere nicht innerhalb von Minuten. Erstens ist die Frage, ob eine Sache sich überhaupt länger entwickelt, ob man also überhaupt etwas sagen muss. Und zweitens ist die unreflektierte Teilnahme an einer Debatte immer ein Fehler, weil man dann Zeug produziert, von dem man hinterher nicht mehr gut runterkommt oder damit falsche Akzente setzt.

Ist es denn heute noch möglich, sich mehr als ein paar Minuten Zeit zu nehmen, wenn man aktiv in eine Debatte einsteigen will?

Das ist möglich. Wir haben inzwischen 40 Jahre lang die Debatten beeinflusst und tun das weiterhin. Man muss überlegen, an welcher Stelle eine Aktion eine gute Hebelwirkung hat. Nur dann können wir als relativ kleines Institut effizient Einfluss nehmen. Mal ist es, dass man an einer bestimmten Stelle Klartext redet, wenn man voraussichtlich verstanden wird. Das heißt nicht, dass man eine Mainstream-Position hat, aber dass man auch nicht ganz abseits liegt mit seiner Meinung. Mal ist es besser, dass man anderen Playern sehr gezielt Informationen gibt. Man hat ja heute den absoluten Überfluss an Informationen. Also müssen wir Orientierung bieten.

Ich sage meinen Leuten immer: „Egal, was ihr in der Studie schreibt, wichtig ist, dass ihr den richtigen Leuten die zehn Hauptsätze eurer Studie erzählt.“ Um Sachen bei dieser Informationsflut wirklich zu vermitteln, muss man losgehen und das, was wichtig ist, mündlich oder indirekt mündlich erzählen, zum Beispiel auch über Twitter. Die geschriebene Version der Studie, ob auf Papier oder elektronisch, ist eigentlich nur die wissenschaftliche Selbstvergewisserung dieser zehn Hauptsätze.

Durch die Bewegung „Fridays for Future“ entsteht in der Klimafrage derzeit enormer politischer Druck. Die ganze Debatte dreht sich derzeit. Was ist das für ein Zeitpunkt?

Aus meiner Sicht ist es ein wichtiger Zeitpunkt. Aber man kann erst in zwei Jahren sagen, ob er wirklich entscheidend war. Es ist natürlich auch für uns als Öko-Institut wichtig, sich in diesen Momenten einzubringen. Wenn man erfolgreich sein will, muss man sich vor allem um die Umsetzung kümmern. Und man kann sich um die Umsetzung auch erst kümmern, wenn genug Druck da ist.

Diesen Druck braucht es?

Es ändern sich manche Sachen aus Zufall, aber viele Sachen unter Druck.

Im Rahmen der Klimadebatte gibt es die Forderung, man müsse in Deutschland wieder auf die Kernkraft setzen. Was sagen Sie dazu?

Die Geschichte hat mehrere Haken. So bekommt man nur mit einem dezentralen Energiebereitstellungssystem eine vernünftige Energiewende hin.

Statt der Großkraftwerke gibt es auch kleine modulare Reaktoren, die derzeit entwickelt werden.

Das ist ein Physikertraum. Diese Maschinen, vor allem von Physikern und nicht von praxisorientierten Ingenieuren entwickelt, werden nicht so betriebstauglich funktionieren, wie die Proponenten es sich vorstellen. Und damit sind potenzielle Investoren nicht zu überzeugen, um hier wirklich viel Geld hineinzustecken. Man wird nur große Reaktoren heutigen Typs bauen, weil es die einzigen sind, die im Verhältnis zum Leistungsoutput halbwegs bezahlbar sind. Trotzdem wird man kaum einen Investor finden, der heute in ein Kernkraftwerk investieren will. Alle Neubauprojekte, die weltweit jetzt laufen, sind in staatlicher Umgebung angesiedelt. Das ist symptomatisch. Das wird diesen Staaten in 20 bis 30 Jahren auch extreme ökonomische Schwierigkeiten bringen.

Warum?

Weil es gestrandetes Kapital ist oder Kapital ist, dass man mit neuem Kapital immer weiter am Leben halten muss. Aktuelles Beispiel ist die Schweiz: Die haben überalterte Kernkraftwerke mit Problemen. Aber gefühlt nicht genug Geld, um aus der Kernkraft aussteigen zu können. Das heißt: Dort wird immer wieder ein Pflaster draufgeklebt. Das letzte hat mehrere Hundert Millionen Schweizer Franken gekostet. Das ist ein Problem, weil es wirtschaftlich nicht tragbar ist und natürlich irgendwann ein Sicherheitsrisiko wird.

Wenn wir so weitermachen, werden wir noch einige Mal Ereignisse mit Auswirkungen wie in Fukushima haben. Das ist logisch, weil die Reaktoren nicht perfekt sind. Weil sie schlechter gebaut sind, als sie ursprünglich konzipiert wurden. Es treten also in der Praxis Fehler auf, die eigentlich nicht auftreten sollten.
Es sprechen zudem aktuell zwei wesentliche Argumente gegen neue Kernkraftwerke, ein militärisches Argument und ein Krisenargument.

Ein militärisches Argument?

Ich glaube, der Iran will Kernkraftwerke, weil er ein Industrieland sein will und hat sich damit die militärische Option ganz easy geholt. Die Pakistani haben es so gemacht, die Inder haben es so gemacht. Jedes Land, das Kernkraftwerke selbst betreibt – und nicht von ausländischen Unternehmen betreiben lässt –, versetzt sich damit in die Lage, Atomwaffen herzustellen.

Eine gewollte Waffenoption?

Die jetzt nicht gewollt ist, die vielleicht aber in zehn Jahren gewollt ist. Unsere Generation ist in einer total langsamen Welt aufgewachsen. Die politische Weltlage hat sich noch nie 40 oder 50 Jahre geähnelt. Vielleicht in der Pax Romana in Teilen Europas. Das heißt, dass normalerweise politische und wirtschaftliche Bündnisse zusammenbrechen, anders laufen, Staaten zusammenbrechen, dass es Krieg gibt, sich Grenzen verändern. Das hat sich jahrhundertelang Dekade für Dekade geändert und wir kommen jetzt wieder in diese normale Weltentwicklungsgeschwindigkeiten. Das Schlimme ist, dass ganz viele der heutigen Entscheidungsträger in dieser langsamen Welt aufgewachsen sind und geprägt wurden.

Wo ist das Risiko dabei?

Die glauben nicht, dass die Welt anders wird. Nehmen Sie das Kernkraftwerk, das im Iran steht: Das ist von Deutschland damals dem Schah geliefert worden. Der ist heute Geschichte. Das eine ist also die direkte militärische Option, das andere, was ich für tendenziell noch riskanter halte, sind die Krisenaspekte. Die meisten Länder, bei denen wir den Neubau von Kernkraftwerken diskutieren, haben kein stabiles Stromnetz. Und was wir in Fukushima gelernt haben, ist, dass ein Kernkraftwerk nicht überlebt, wenn es nicht an einem stabilen Netz ist. Weil man jederzeit Fremdstrom braucht, wenn die Anlage in die Knie gegangen ist, damit die wieder gestartet werden kann.

Also kann ich aus Risikogesichtspunkten nur in Ländern mit einem stabilen Netz unterwegs sein. Dann ist noch wichtig, wie ein Land ausgerüstet ist und wie das Land dann in einem Konfliktfall aussieht. Wenn es auf der Krim ein Kernkraftwerk gegeben hätte, dann wäre ich als Beobachter sehr gespannt gewesen, wie das abgelaufen wäre.

Das Argument, dass man die Kernkraft braucht, um dem Klimawandel besser begegnen zu können, teilen Sie nicht?

Wir brauchen sie nicht, dass kann man nachrechnen, sowohl weltweit nicht und auch für einzelne Nationen nicht. Und wenn wir Kernkraftwerke in einer sich verändernden und instabiler werdenden Welt weiter betreiben, haben wir eben dieses zusätzliche Risiko in Form von Konfliktgebieten und der möglichen militärischen Option.

Hat es Sie gewundert, dass Sie irgendwann mal von der Anti-AKW-Bewegung angegangen wurden, als Sie sich für den Verbleib der Castoren in Deutschland aussprachen?

Damit muss man leben, dass man von allen Seiten angegangen wird. Wir sind vom Öko-Institut jetzt nicht ruhig, nur weil irgendeine Klientel oder Freunde das nicht wollen, was wir sagen. Es ist dann wieder die Frage, ob man den richtigen Zeitpunkt erwischt. Aber der richtige Zeitpunkt heißt nicht, dass man dann keinen Ärger kriegt, sondern dass man dann wirksam ist. Der Ärger mit den Transporten, der hat fünf Jahre später dazu geführt, dass die Zwischenlagerung an den Kraftwerken festgeschrieben wurde und die Wiederaufarbeitung mit ihren viel größeren Risiken letztlich verboten wurde.

Sie sind selbst Ingenieur. Was macht den Berufsstand aus?

Der Ingenieur ist der, der die Welt technisch am Laufen halten muss. Dadurch, dass die Welt nicht so läuft, wie es die Theorie sagt, sondern immer noch viele „Nebeneffekte“ eine Rolle spielen, muss er auch an vielen Stellen eingreifen, wo die praktische Realität Zusätzliches erfordert, damit es funktioniert. Das Funktionieren muss gesellschaftlich verträglich und dabei auf Dauer wirtschaftlich sein.

Ingenieure sind immer wieder fasziniert von Technik, die sich auch nicht unbedingt rechnet …

Dadurch, dass die Welt nicht mit Physikerzeichnungen läuft, muss man 1000-mal ausprobieren, ob irgendetwas in der Praxis wirklich läuft. Da ist es nicht falsch, sich alte Ideen noch einmal anzusehen. Segelschiffe abzuschaffen, weil die in der Flaute hängen bleiben – okay. Aber dann Jahrzehnte später, wenn man nicht 30 Matrosen braucht, um die Segel zu setzen, Zugsegel an Frachtschiffen einzusetzen und dann 20 % oder 30 % Treibstoff zu sparen, ist dann wieder eine Möglichkeit.

Oder gucken Sie auf den Freiherrn von Drais mit seinem Fahrrad, in welcher technischen und infrastrukturellen Umgebung der in den 1820er-Jahren anfangs gewesen ist. Es hat erst einmal eine Federung und viel bessere Straßen gebraucht, damit sich das Fahrrad durchsetzt. Da hat sich das ganze System drumherum geändert.

Eine Technologie, die seit vielen Jahrzehnten diskutiert wird, ist die Wasserstoffwirtschaft. Ist das jetzt der richtige Zeitpunkt für sie?

Bei Wasserstoff habe ich keine grundsätzlichen Vorbehalte, aber es ist noch keine vernünftige, technische Risikobetrachtung zu einem großräumigen Wasserstofftechnologiesystem gemacht worden. Was wir aber in Zusammenarbeit mit der Automobilindustrie gelernt haben, ist, dass es die Automobilkonzerne nicht schaffen, intensive Forschungs- und Entwicklungsarbeiten an mehreren grundsätzlichen Strängen zu finanzieren.

Warum?

Ein verkaufbares Auto zu machen, ist etwas anderes, als ein Motorprinzip zu entwickeln, egal um welchen Treibstoff es geht. Der Aufwand von diesem Motor hin zu einem produktions- und verkaufsfähigen Automobil ist dann verdammt groß.

Wird also die Power-to-X-Debatte, die ja auf Wasserstoff basiert, falsch geführt?

Ich glaube nicht, dass Power-to-X zu viel führt. Auch weil es insgesamt in der Energiebilanz eher ineffizient ist. Nach unseren Analysen gibt es nur kleine Teilbereiche, zum Beispiel Flugzeugantriebe, bei denen Power-to-X wahrscheinlich die CO2-freie Lösung auf Dauer ist. Wenn man aber alles auf Power-to-X stützen wollte, dann würde das ganze System der erneuerbaren Energien zu teuer, weil man so große Umwandlungskosten und Aufwendungen hat. Zudem hätte ich irgendwann gerne auch mal eine Analyse der „Nebengase“ in einem solchen System, bei dem man zusätzlich zum CO2 mindestens Lachgas und Methan mit berücksichtigt.

Es wird so sein, dass viel Geld in Power-to-X fließt, und es wird auch irgendetwas herauskommen, möglicherweise auch unerwartete Dinge. Ich bin nie gegen Forschung, vor allem nie gegen Forschung, die Sachen ausprobiert, weil es schon immer unerwartete Glückstreffer dabei gab. Aber ich sehe halt: Wenn wir jetzt unserer Automobilindustrie sagen würden: Forscht an zwei oder drei Technologien parallel – dann kriegen die das nicht hin. Und sie behaupten das mit guten Gründen. Ich will jetzt nicht in einer Situation, in der es um die zeitnahe Durchsetzung von Elektromobilität geht, dass die Automobilwirtschaft die Hälfte ihrer Entwicklungskapazitäten für etwas anderes abziehen muss.

Es braucht Fokussierung in diesem Punkt?

Industrie hat immer nur überlebt, wenn sie sich fokussiert hat.

Was machen Sie, wenn Sie nicht mehr im Öko-Institut sitzen?

Vor zehn Jahren habe ich davon geträumt, meine Promotion in einem geschichtlichen Thema zu machen, aber inzwischen habe ich 65 Jahre ohne Promotion durchgehalten. Mit Geschichte werde ich mich als Hobby weiter beschäftigen. Ich bin als Vorsitzender der Entsorgungskommission beim Bundesumweltministerium bis September nächsten Jahres berufen. Und da werde ich auch weitermachen, solange ich gefragt werde. Aber ich muss kein Institut mehr mit 170 Leuten verantwortlich führen und managen. Ich arbeite auf jeden Fall als freiberuflicher Experte weiter. Ein bisschen Modellbau muss ich dann zwischendurch auch noch machen.

Was machen Sie da?

Fahrfähige Eisenbahnen vor 1870 im Maßstab H0. Das Schwierige ist, die Lokomotiven waren – im Vergleich zu heute – damals so klein. Dies führt zu der Herausforderung, damit die Züge beim Fahren nicht ständig durchrutschen, dass man in ein sehr kleines Volumen 100 g bis 120 g an Gewicht reinbekommen muss und gleichzeitig Motor und Getriebe auch Platz haben müssen.

Gibt es, rückblickend auf das Öko-Institut, eine Baustelle, die sie noch gerne abgearbeitet hätten?

Das Öko-Institut war immer viele Baustellen. Die Welt besteht aus Baustellen, und das ist schön so. Ich habe es nicht so mit abgeschlossenen Visionen.

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