Interview mit IBM-Forscher Guillermo Cecchi 20. Nov 2020 Von Regine Bönsch Lesezeit: ca. 6 Minuten

Algorithmen helfen bei Therapie und Erkennung von Demenz

Forschung: IBM-Forscher Guillermo Cecchi kann mithilfe von Schriftproben und künstlicher Intelligenz die Wirkung von Therapien messen und Alzheimer früher voraussagen.


Foto: PantherMedia / merrydolla

VDI nachrichten: Welche Arten für die Früherkennung von Alzheimer gibt es zurzeit?

Guillermo Cecchi: Eigentlich nur wenige zuverlässige Methoden. Es gibt gute Möglichkeiten, um eine Alzheimer-Erkrankung zu erkennen, die genetisch bedingt sind. Aber das trifft nur auf rund 1 % der Patienten zu. Ganz junge Verfahren agieren mit neuen Blutmarkern, die sehr vielversprechend sind. Es gibt radiologische Verfahren, die von vorausschauendem Wert sind, aber es gibt wenig Vergleichbares zu unserer Forschung.

Cecchi gilt als Pionier für die Nutzung von Sprachproben zur Analyse der Psyche. Foto: IBM

Worauf basiert Ihre Forschung?

Wir wissen seit Langem, dass Sprache schon frühzeitig etwas darüber aussagen kann, ob jemand Alzheimer entwickelt. Das hat beispielsweise die sogenannte Nonnen-Studie unter Beweis gestellt. Dabei hat man in den 1980er-Jahren Schwestern eines Ordens im Alter zwischen 75 und 106 Jahren untersucht. Die Studie zeigt, dass die Plaques-Theorie alleine nicht ausreicht, um die Entstehung von Alzheimer zu erklären. Für uns wichtig: In dieser Studie wurden auch Schriftproben der Nonnen gesammelt, aus denen sich erkennen ließ, ob die Schwestern Demenz entwickelten.

Unsere KI-Modelle füttern wir allerdings mit Daten aus der Framingham-Herz-Studie, die seit 1948 systematisch Ursachen und Risiken von Herzerkrankungen bei mehreren Tausend Menschen untersucht hat. Dabei wurden auch Text- und Sprachproben der Probanden genommen.

Von wievielen Menschen haben Sie Proben in Ihrer Datenbank?

Wir haben rund 4000, nutzen aber noch unabhängige Datensätze von rund 1000. Aber in unserem voll durchgetesteten sogenannten Goldstandard, also dort, wo wir Textbeispiele klinisch schon sehr genau charakterisiert haben, brauchen wir nur 80. Das reicht, um vergleichende Aussagen zu treffen.

Wie lang sind denn die Sprach- oder – besser gesagt – die Schriftproben?

Das ist nur ein kurzer Text. Sehr etabliert in der Forschung ist die Bildbeschreibung einer 1950er-Jahre-Szene, des sogenannten Kuchendiebs. Kinder stehlen Cookies, während Mutter Geschirr wäscht. Es gibt auch eine gesprochene Version, aber wir haben die geschriebene Version genommen. Die alten Aufnahmen waren nicht so gut.

„Typisch ist ein telegrammartiger Stil“

Was ist typisch für die Schreibe von künftigen Alzheimer-Patienten?

Wir haben verschiedene Merkmale gefunden. Typisch ist beispielsweise ein telegrammartiger Stil, bei dem Artikel und Verben weggelassen werden. Häufig fehlen auch die Spezifikationen beim Beschreiben von Personen. Dinge werden nicht erwähnt, die im Bild sind, oder es kommt zu häufige Wiederholungen. Warum das so ist, wissen wir nicht, aber das sind Merkmale, die etwas über den Geisteszustand aussagen.

Wie im richtigen Leben …

Genau! Diese Effekte kennen wir alle von Verwandten oder Freunden, die von Alzheimer betroffen sind.

„Ich arbeite seit zehn Jahren an dem Thema“

Haben Sie auch einen Betroffenen in Ihrem näheren Umfeld?

Ja, meinen Vater. Ich konnte ihn noch kurz vor dem Lockdown im Februar in Argentinien besuchen, als die Diagnose gestellt wurde. Aber der kognitive Abbau war schon ein Jahr zuvor sehr deutlich.

Eine zusätzliche Motivation für Ihre Arbeit?

Ich arbeite seit rund zehn Jahren an dem Thema. Unsere aktuelle Studie startete vor vier Jahren. Aber es ist etwas anderes, wenn man die Krankheit bei einer nahen Person erlebt. Noch im letzten Jahr haben meine Mutter und mein Bruder die Krankheit verleugnet – wie so viele. „Er wird alt“, sagten sie, aber es ist etwas anderes, ob jemand alt wird oder Alzheimer bekommt.

Nun habe ich allerdings auch ein trainiertes Ohr. Sprache, davon bin ich fest überzeugt, ist der Klebstoff unserer Gesellschaft. Ohne sie wären wir wie Tiere in der afrikanischen Savanne.

„Auch Aussagen für Parkinson-Patienten möglich“

Sie kommen aus Argentinien und sprechen Spanisch. Ist Ihr System auf andere Sprachen übertragbar?

Wir haben eine große Anzahl von Studien, die uns zeigen, dass unsere Arbeiten auf viele europäische Sprachen zu übertragen sind. Sie können damit auch Aussagen für Patienten mit Parkinson oder Schizophrenie und für Menschen, die Drogen nehmen, treffen, und das in vielen Sprachen. Europäische Sprachen ähneln sich da sehr. Die Effekte wie Wiederholung oder Weglassen sind die gleichen. Wir fangen jetzt an, Untersuchungen in Mandarin und Hindi zu machen.

Ein anderes Beispiel: Bei Parkinson geht man von einem Mangel des Botenstoffs Dopamin aus. Bei manchen Menschen verbessert sich ihr Zustand, wenn sie Dopamin-Tabletten nehmen. Dann verändert sich die Sprache, und diese Veränderungen sind in einem Frequenzbereich von nur 10 kHz signifikant. Das ist für Menschen nicht hörbar. Aber unser System kann das hören und z. B. besser feststellen als der Neurologe, ob Patienten ihre Tabletten genommen haben. Das ist vergleichbar mit einem EKG. Mit einem Stethoskop können Sie auch vieles nicht hören.

Wie hoch ist Ihre Genauigkeit bei der Vorhersage von Alzheimer?

Die liegt zwischen 71 % und 74 %. Alle anderen Modelle, die nicht auf Sprache basieren, liegen bei maximal 60 %. Aber eigentlich lässt sich das nicht vergleichen. Geben Sie mir ein Sprachbeispiel, und ohne dass ich etwas über die Person weiß, kann ich bei der Mehrzahl der Proben eine Voraussage treffen. Ein sehr stringentes Modell.

Maßnahmen wie die Verabreichung von Medikamenten lassen sich überprüfen

Und, es ist ein sehr günstiges Modell … Wie weit können Sie vorausschauen?

Unsere Algorithmen haben bewiesen, dass sie bis zu sieben Jahre, bevor sich erste Symptome zeigen und kognitive Fähigkeiten verschwinden, eine Voraussage treffen können. Wichtig ist zu erwähnen, dass wir die Möglichkeit der Voraussage auch nutzen, um unser Modell zu validieren. Es geht dabei weniger um die Prognose, sondern auch darum, ob Maßnahmen wie die Verabreichung von Medikamenten oder eine Änderung des Lebensstils wirken. Sie müssen nicht jahrelang auf Ergebnisse warten, sondern können das jede Woche, jeden Monat testen.

Wann wird Ihr System im Markt sein?

Das könnte heute sein. Es könnte schon jetzt von Ärzten als ein zusätzliches Beobachtungssignal verwendet werden – ähnlich, wie wir auch Smartwatches nutzen, um unsere Aktivitäten zu analysieren. Und, ein weiterer Vorteil: Ärzte können Ferneinschätzungen vornehmen – über Zoom oder Webex. Die Patienten müssen nicht in irgendein Krankenhaus oder eine Praxis kommen. Die Technologie ist da, die Forschung stoppt nie. Der Einsatz ist keine wissenschaftliche Frage, sondern eher eine regulatorische und wirtschaftliche Frage.

„Wir nutzen den typischen Ansatz vom maschinellen Lernen“

Können Sie genauer den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Big Data erklären?

Wir setzen vorhandene IBM-­KI-Techniken ein, die für diese Arbeit prädestiniert sind, weil diese Modelle unstrukturierte Texte, Bilder oder auch Audiodateien analysieren und interpretieren können. Aber wir haben auch selbst vieles ergänzt. Auf der einen Seite nutzen wir also den typischen Ansatz von maschinellem Lernen. Auf der anderen Seite profitieren wir von den Dekaden der Forschung in der Biologie, den Neurowissenschaften, der Psychologie und mehr. Wir nehmen dieses Wissen und packen es in Algorithmen. Wir haben also unseren Ansatz – Test, Messung und Ergebnis –, kombiniert mit vorhandenem Know-how und der klinischen Bewertung.

Sie arbeiten mit Pfizer zusammen. Was tut der Pharmakonzern in dieser Kooperation?

Vor vier Jahren haben wir eine breite Zusammenarbeit in puncto Parkinson begonnen. Pfizer entwickelte dafür Medikamente, deren Wirkung überprüft werden sollte. Der Konzern stellte den Zugang zu den Framingham-Herz-Daten zur Verfügung.

Haben Sie Konkurrenten?

Es gibt eine Menge Start-ups, die sich mit Sprachanalysen bei neuronalen Krankheiten beschäftigen.

„Unser System versteht sich eher als EKG“

Wenn wir über KI sprechen, müssen wir auch über Ethik reden. Wie können Sie garantieren, dass nicht nur Maschinen die Diagnosen machen, sondern immer noch Menschen das kontrollieren?

Wir planen nicht, unser System jedem bereitzustellen. Wir sind uns darüber bewusst, dass es auch für falsche Zwecke genutzt werden könnte. Unser System versteht sich eher wie ein EKG, eine ergänzende Methode, um Aussagen zu treffen. In diesem Sinne ist es ein medizinisches Instrument. Wir arbeiten daher auch mit einem Gerätehersteller und Kliniken zusammen. Unser letztliches Ziel ist es, den Kliniken Werkzeuge zur Verfügung zu stellen.

Eine Telefon-Hotline, bei der ich anrufen kann und jemand mir sagt: „Sie sind eine Kandidatin für Alzheimer!“, wird es also nicht geben?

Jede Forschung kann missbraucht werden. Unser Ziel ist es jedoch, erst mal die medizinische Versorgung zu verbessern. Menschen leben immer länger mit neurologischen Erkrankungen. Da müssen wir etwas tun. Gleichzeitig ist in den USA in den letzten fünf Jahren die Lebenserwartung von bestimmten männlichen Bevölkerungsgruppen aufgrund einer hohen Anzahl von Suiziden gesunken. Diese Menschen müssen wir erreichen. Und das können wir mit Technologie.

Was sind die nächsten Schritte?

Wir wollen unsere Studien auf noch größere Füße stellen. Es geht u. a. darum, zu verstehen, wie sich bestimmte Interventionen – Medikamente, veränderter Lebensstil, Therapien – auswirken, und das bei Zehntausenden von Menschen. Dann werden wir zur FDA (die US-Arzneimittelbehörde, die Red.) gehen und – wie jetzt die Covid-19-Impfstoffe – die Zulassungsphasen durchlaufen.

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