Übergriffe am Arbeitsplatz 26. Nov 2021 Lesezeit: ca. 6 Minuten

Sexuelle Belästigung ist kein Kavaliersdelikt

Unerwünschte Annäherung liegt nicht erst bei Handgreiflichkeiten vor. Sie trifft vor allem Frauen, aber nicht ausschließlich. Das Internet erweitert den Raum für Aufdringlichkeiten. Was dagegen tun?

Die Hand am falschen Fleck. Mitunter werden Machtpositionen für sexuelle Übergriffe missbraucht.
Foto: PantherMedia/AndreyPopov

Von Wolfgang Schmitz

Herr Meier ist begeistert vom neuen Outfit seiner Kollegin Frau Müller. „Das Kleid steht Ihnen hervorragend. Es betont Ihre weiblichen Formen.“ Ups, auch wenn Herr Meier Frau Müller damit ein Kompliment machen wollte, ist er in ein Fettnäpfchen getreten.

Hinter der Aussage steckt ein bestimmtes äußeres Idealbild von Weiblichkeit, das andere weibliche Körperformen diskriminiert. Herr Meier hat die Grenzen zwischen gutem Ton und Anstößigkeit überschritten. Denn aktives Handeln ist nicht erforderlich, um von sexueller Belästigung zu sprechen, allein entsprechende Verbalisierungen reichen aus, weiß Stephan Rusch, Berater und Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie. „Dazu gehören insbesondere das Auffordern zu sexuellen Handlungen, die Ehre verletzende Bemerkungen, sexuelle Anzüglichkeiten oder zweideutige Sprüche oder Witze.“

Stephan Rusch: „Flirts entstehen im beiderseitigen Einvernehmen, übergriffiges Verhalten geschieht ohne das Einverständnis der anderen Person.“ Foto: privat

Zweideutige Kommentare und geschmacklose Witze

Eine 2019 von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) durchgeführte Befragung von 1531 Personen kommt zu dem Ergebnis, dass mit rund 9 % der Befragten etwa jede elfte erwerbstätige Person in den drei Jahren zuvor von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen war, Frauen mit 13 % deutlich häufiger als Männer mit 5 %. 82 % aller Betroffenen erklärten, die Belästigenden seien ausschließlich oder überwiegend männlich gewesen, bei weiblichen Opfern war dies fast durchgängig der Fall (98 %). Männer gaben dies zu 39 % an, nannten zu 16 % beide Geschlechter und zu 46 % ausschließlich oder überwiegend weibliche Personen, von denen die Anzüglichkeiten und Übergriffe ausgingen.

Zweideutige Kommentare und Witze mit sexuellem Bezugkommen unter den Aufdringlichkeiten am häufigsten vor, hatte 2015 die ADS ermittelt. Es folgen Bemerkungen mit sexuellem Inhalt, unangemessene Fragen mit sexuellem Bezug zum Privatleben oder dem Aussehen, unerwünschte Annäherungen, Berührungen oder gar Küsse. Belästigungen werden von Frauen in überwiegendem Maße im Büro (56 %), auf Betriebsfeiern (48 %), auf Fluren oder im Fahrstuhl (35 %), in der Kantine oder der Gemeinschaftsküche (32 %) erlebt.

„Spaßeshalber“ ein Hieb auf den Po

Junge Frauen, Frauen in Ausbildungsverhältnissen (22 %) sowie Frauen, die in männlich dominierten Betrieben oder Bereichen arbeiten, sind besonders häufig von sexueller Belästigung betroffen (58 %). Stephan Rusch kann Folgendes berichten: „In der Autoindustrie, in der nach wie vor mehr Männer als Frauen beschäftigt sind, ist es nach der Erzählung eines Betriebsratsmitgliedes offensichtlich Usus, Kolleginnen wie Kollegen ,spaßeshalber‘ auf den Po zu hauen, sobald sie sich während eines Arbeitsabschnittes mit dem Oberkörper in das Fahrzeug lehnen. Die Bewertung darüber, ob es sich bei diesem Akt um eine sexuelle Belästigung handelt oder nicht, muss hier wahrlich nicht mehr vorgenommen werden.“

Das Internet erweitert Raum und Möglichkeiten für Belästigungen und zweideutige Anzüglichkeiten, etwa über Fotos und Videos mit pornografischem Material. Stephan Rusch verweist darauf, dass sich innerhalb von fünf Jahren, von 1998 bis 2003, die Darstellung sexueller Inhalte im Fernsehen fast verdoppelt habe. An diesem Trend dürfte sich wenig geändert haben. „Dabei werden Frauen viel häufiger sexualisiert dargestellt als Männer.“

Wenn sich etwas komisch anfühlt …

Laut ADS-Studie haben Frauen eine sensiblere Antenne für sexuelle Belästigung, sie erkennen Übergriffe weitaus eher als Männer. Frauen erleben tendenziell eher physische Belästigungen, Männer eher visuelle und verbale Belästigungsformen. Und sie werden im Vergleich zu Männern häufiger durch Kollegen einer höheren Hierarchiestufe sexuell belästigt.

Aber wo beginnt das Problem? „Sexuelle Belästigung fängt dort an, wo sich für Betroffene etwas komisch anfühlt oder wo sie sich in ihrem persönlichen Bereich belästigt fühlen – und das kann weit vor körperlichen Übergriffen sein“, sagt Birgit Langebartels, Diplom-Psychologin beim Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold. „Das können bereits Bemerkungen sein, die mich anders bewerten als meine Kollegin oder meinen Kollegen.“ Nicht selten, dass ein Vorgesetzter das hierarchische „Gefälle“ ausnutze, um schlüpfrig zu werden. Ein solches Verhalten wird etwa „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt vorgeworfen, der daraufhin sein Amt räumen musste.

Birgit Langebartels: „Sexuelle Belästigung fängt dort an, wo sich für Betroffene etwas komisch anfühlt.“ Foto: Christoph Ruecker

Ohnmacht, Scham und Angst

Eine Erklärung für dieses Verhalten hat Stephan Rusch: „Männer, denen mehr Einfluss und Dominanz zugeschrieben wird, sind aufgrund ihrer Position in der Lage, Frauen als bloße Objekte herabzuwürdigen.“ Durch sexuelle Belästigung werde Macht demonstriert, Konkurrenz ausgeübt oder Respektlosigkeit zum Ausdruck gebracht. „Untergebene“, seien es Frauen oder Männer, „fühlen sich demgegenüber oft ohnmächtig, schämen sich, haben Angst vor Repressalien oder dass sie nicht in Ruhe gelassen werden“, sagt Birgit Langebartels. Die Betroffenen fühlen sich dann meist alleingelassen. Das muss nicht sein. Die Führung von Unternehmen stehe in der Verantwortung, sie habe eine Fürsorgepflicht gegenüber den Beschäftigten, betont Birgit Langebartels. „Es geht darum, ein Klima zu schaffen, in dem solche Dinge geäußert werden können. Viele Frauen beruhigen sich, indem sie sich etwa sagen: ,Na ja, so schlimm war das ja auch wieder nicht. Im Grunde ist das ein netter Kerl.‘ Das verschleiert das Problem. Männer und Frauen müssen darin bestärkt werden, sich öffnen zu können.“

Homosexuelle schweigen das Problem meist tot

Die Psychologin rät, in Unternehmen Vertrauenspersonen einzusetzen, an die man sich wenden kann, ohne direkt als „Zicke“ oder „Weichei“ verunglimpft zu werden. Bei Männern sei das womöglich noch komplizierter, weil ein Offenlegen des Problems gegen das Männerbild des harten Kerls verstößt, „Mann“ gäbe sich dann ein Blöße und verdränge daher schneller. „Das Problem wird häufiger tabuisiert als sexuelle Übergriffe auf Frauen.“ Bei Homosexuellen würden, so Birgit Langebartels, sexuelle Übergriffe zudem totgeschwiegen, weil es womöglich mit einem Out-Coming verbunden sei.

Laut Stephan Rusch erleben hierzulande 22 % der lesbischen Frauen, 21 % der schwulen Männer, 17 % der bisexuellen Frauen und 14 % der bisexuellen Männer aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung Diskriminierung am Arbeitsplatz. Der Psychologe kann nicht verstehen, dass „fast zwei Drittel der 30 Dax-Unternehmen noch keine Betriebsvereinbarung zum Thema sexuelle Belästigung haben. Und das, obwohl diese Zahlen für sich sprechen.“

Viele Betroffene wüssten nicht, wo sie sich beschweren sollen und dass sie sich gerichtlich zur Wehr setzen und auf Schadenersatz oder Entschädigung klagen können. Nach Ruschs Erkenntnissen wisse ein Fünftel der Betroffenen hierzulande nicht, dass der Arbeitgeber Maßnahmen ergreifen muss, um sie vor sexueller Belästigung zu schützen. „46 % von ihnen geben an, dass ihnen keine einzige Maßnahme ihres Betriebes bekannt ist. Die Betroffenen wissen auch nicht, dass sie bei Untätigkeit des Betriebes gegen ihren Arbeitgeber vorgehen können.“

„Nein heißt Nein!“

Für den Arbeitspsychologen kann das „komische Gefühl“, von dem Birgit Langebartels spricht, bei Adressatin oder Adressat bereits aufkeimen, wenn sie aufdringlich angestarrt werden oder wenn ihnen hinterhergepfiffen wird. Wer glaubt, mit Bildern leicht bekleideter Damen im Büro auf der sicheren Seite zu sein, täuscht sich. „Häufig werde ich gefragt, ob das Aufhängen des Pirelli-Kalenders unter die Kategorie sexuelle Belästigung fällt“, sagt Stephan Rusch. „Die Antwort ist eindeutig ,Ja‘. Nicht zuletzt nach harscher Kritik aus Schweden ist die Produktion des Kalenders übrigens nach 40 Jahren eingestellt worden.“

Wenn es aber doch nicht mehr und nicht weniger als ein Flirt sein soll?! „Flirts entstehen im beiderseitigen Einvernehmen“, räumt Rusch Missverständnisse aus. „Übergriffiges Verhalten geschieht ohne das Einverständnis der anderen Person. Was wir alle verinnerlichen sollten, ist die Tatsache, dass die Beteiligten die Situation häufig unterschiedlich wahrnehmen und bewerten.“ Daraus sollten wir, so der Wissenschaftler, schließen: Immer dann, wenn Ablehnung signalisiert wird, ist Zurückhaltung oberstes Gebot. „Nein heißt Nein!“

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