ARBEITSORGANISATION 09. Jul 2019 Chris Löwer Lesezeit: ca. 4 Minuten

Crowdsourcing als Chance und Gefahr

Nicht nur große Unternehmen, sondern auch kleine und mittlere setzen zumindest gelegentlich auf Crowdsourcing, vor allem im Bereich Forschung und Entwicklung. Sind feste Ingenieurs-Jobs bedroht? Werden Ingenieurleistungen zunehmend ausgelagert? Kritiker befürchten den Abbau von festen Arbeitsplätzen, andere beschwören die Innovationskraft der Methode.

Teamwork: Das Wissen von „Betriebsfremden“ einzupflegen, kann vorteilhaft sein, aber Gefahren bergen.
Foto: alimdi.net/Westend61

Der Aufruf des BMW Innovationsteams im „Startnext Blog“ klingt mitreißend: Gesucht werden „innovative und visionäre Auto-App-Ideen von Entwicklern, Kreativen und BMW-Fans“. Die Einladung zum Ideenfinden richtet sich an eine anonyme Masse im Internet, die Crowd, die als Quelle („Source“) der Inspiration angezapft wird – so funktioniert Crowdsourcing. Der Autobauer betritt damit keineswegs Neuland, er greift zunehmend auf Ideen der Internetgemeinde zurück, auch für Entwicklungsaufgaben, unter anderem für das Elektromobil i3. Konzerne wie Toyota, VW, Pfizer oder Procter & Gamble zapfen ebenfalls auf diese Weise Kreativität an.

Was versteht man unter Crowdsourcing?

Den Begriff Crowdsourcing hat im Jahr 2006 das amerikanische Tech-Magazin „Wired“ kreiert: Demnach lagern Unternehmen bestimmte Aufgaben an ein Heer von unbezahlten Freizeitarbeitern im Netz aus, auch um sich Effekte der Schwarmintelligenz zunutze zu machen. In Unternehmen hat sich parallel dazu ein etwas anderes Begriffsverständnis durchgesetzt: Gemeint ist hier die aktive Beteiligung von Mitarbeitern, Kunden und Partnern an der Wertschöpfungskette eines Unternehmens – vom Produktdesign über den Vertrieb bis hin zum Support.

Vor allem IT-Firmen nutzten anfangs das Know-how von Privatleuten oder Halbprofis, um neue Anwendungen zu entwickeln. Auch als Ideenwettbewerb wird Crowdsourcing gern genutzt. Was stets zählt, ist die beste Idee, das Ergebnis oder die zündende Innovation. Wie viel Zeit darauf verwendet wurde, spielt keine Rolle.

C.L.

Bisher war das eher aus der Softwareentwicklung bekannt. IBM & Co. lassen ihre Software weltweit entwickeln, interne und externe Programmierer teilen sich in kleine Arbeitsschritte zerlegte Mammut-Aufgaben. Der Storage-Anbieter EMC setzt zunehmend auf Open-Source-Lösungen und die Kraft der Crowd: „Dadurch versammeln wir die Intelligenz von Software-Entwicklern, durch die wir schneller denn je innovativ werden können“, sagt Phil Bullinger, Senior Vice President Engineering and Operations der EMC-Division Isilon. Das Unternehmen spricht über Webseiten und Blogs Entwickler-Communitys an. „Und das sehr erfolgreich. Das ist ein guter Weg, um neue frische Ideen zu finden“, betont Bullinger. „Ich bin überzeugt, das wird künftig zunehmen. Auch in anderen Branchen.“

DER DEUTSCHE GEWERKSCHAFTSBUND WARNT VOR MODERNER SKLAVEREI

Nicht jeder ist davon begeistert. Schon ist die Rede von „Zeitarbeit 2.0“ und dem Verschwinden fester Jobs. Selbst hoch qualifizierte feste Stellen etwa von Ingenieuren würden unsicheren Beschäftigungsverhältnissen weichen. Es wird befürchtet, dass Entwicklungs- und Programmieraufträge künftig verstärkt in Asien und von Freien erledigt werden, um Kosten zu sparen. Vor dem letztjährigen IT-Gipfel der Bundesregierung warnte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann mit drastischen Worten: „Wir werden nicht tatenlos zusehen, wie hier eine Art moderne Sklaverei entsteht, mit einem Wettbewerb um Löhne nach unten.“

Matthias Ziegler, Geschäftsführer für den Bereich Emerging Technology Innovation bei Accenture, mag in den Chor der Bedenkenträger nicht einstimmen: „Das Outsourcing von qualifizierten Arbeitskräften in Niedriglohnländer wird schon seit vielen Jahren als Schreckgespenst an die Wand gemalt, mit der Realität hat das aber nicht viel zu tun. Gerade bei gut ausgebildeten Ingenieuren ist das Kostenargument eher nebensächlich.“ Stattdessen, so sein Argument, hätten viele Unternehmen in Deutschland große Probleme, geeignete Fachkräfte für offene Stellen zu finden. „Crowdsourcing bietet für sie eine pragmatische Möglichkeit, diesen Engpass zumindest in bestimmten Bereichen zu überbrücken“, sagt er.

Außerdem habe sich die Arbeitsweise in den Unternehmen in den letzten Jahren grundlegend gewandelt, weg von großen, starren Teams hin zu kleineren, spezialisierten Projektteams. „Crowdsourcing ist in dieser Entwicklung nur der nächste logische Schritt, nämlich die Öffnung der Projektteams nach außen, um Zugang zu spezifischem Wissen in der Breite zu erhalten“, sagt er. Auch Accenture greift auf das Wissen der Vielen zurück. Ziegler weiß, dass sich für Ingenieure etwas ändern wird: „Crowdsourcing bedeutet für fest angestellte Ingenieure vor allem, dass sie zukünftig mehr Zeit für die Steuerung des Innovationsnetzwerkes aufbringen müssen.“

Wer eine Fragestellung in die Crowd gibt, solle nicht erwarten, dass er die passende Lösung auf dem Silbertablett serviert bekomme und diese nur noch integrieren müsse. Ziegler: „Crowdsourcing ist wie ein großes Puzzle, bei dem viele gute Ideen zu einer realisierbaren Lösung zusammengefügt werden müssen.“ Hier kämen die fest angestellten Ingenieure und Programmierer ins Spiel, die zukünftig viel stärker als Schnittstellenmanager innerhalb des Netzwerks agieren werden.

In dieses Netzwerk könnten auch hervorragend ältere Ingenieure eingebunden werden, meint Michael Gebert, Vorstandsmitglied des Crowdsourcing Verbandes. „Kern dieser Arbeitsform ist ja, dass eine heterogene Gruppe zeitlich und räumlich unabhängig ein gemeinsames Ziel verfolgt – daraus ergeben sich Chancen für Ältere.“ Sie könnten ihre Erfahrung bei technisch komplexen Aufgaben einbringen, vor allem dann, wenn sie keiner in den hergebrachten Strukturen mehr auf dem Radar hat.

Ziegler verweist darauf, dass die Herausforderungen in der F&E nicht nur technisch komplexer werden, viele Innovationen ergäben sich heute aus der branchenübergreifenden Zusammenarbeit. Die Digitalisierung und Vernetzung, welche alle Wirtschaftszweige und erst recht den Maschinenbau erfasse, erfordere tiefe Kenntnisse in der Datenanalytik oder beim Aufbau von IT-Infrastrukturen. „Dieses Spezialwissen findet sich in der hauseigenen F&E-Abteilung nicht immer wieder“, sagt er, „Daher ist Crowdsourcing ein Segen für Unternehmen, denn sie können ohne großen Aufwand auf genau die Expertise zugreifen, die sie für ein bestimmtes Projekt benötigen.“ Für die Ingenieure sei das ebenfalls ein Vorteil, denn sie könnten ihr Fachwissen stets punktgenau einbringen.

Deshalb erproben zunehmend auch Mittelständler diese Arbeitsform, hat Gebert beobachtet, weil sie so ohne große Investitionen innovativer werden können. Er verweist auf den Autozulieferer Widmaier oder Rudolf Chemie. Eine Sprecherin von Knorr-Bremse lässt wissen: „Wir halten zeitgemäße Formen, kollektive Intelligenz für Ideenmanagement und Innovationsmanagement zu nutzen, für sinnvoll und nützlich, gerade in einem weltweit präsenten Unternehmen, wie wir es sind.“ Das Unternehmen prüfe zurzeit, in welcher Form Web-2.0-Tools zum Einsatz kommen können.

Zu ganz neuen Ufern machte sich die SGL Group mit einem auf den ersten Blick ungewöhnlichen Ideenwettbewerb auf. Das Unternehmen stellte die Frage „Was mache ich aus Carbonbeton?“ Die auf die Automobilindustrie abonnierten Ingenieure in der Firma erhielten neben erstaunlichen Ideen auch wertvolle Kontakte zu Architekten, Baustoffherstellern und Immobilienunternehmen.

Viele Unternehmen scheuen sich jedoch, weil sie fürchten, Betriebsgeheimnisse könnten in falsche Hände geraten. „Das Crowdsourcing ist unweigerlich mit einer Öffnung der Unternehmen nach außen verbunden. Wer also seine Betriebsgeheimnisse nicht preisgeben möchte, sollte auf diese Form der offenen Innovation verzichten oder sie wirklich nur zur Ideenfindung nutzen“, sagt Ziegler. Allerdings erfordere Crowdsourcing kein gläsernes Unternehmen, es genüge schon, wenn je nach Fragestellung ein kleiner Einblick gewährt werde. Wichtig sei auch, dass Crowdsourcing als gemeinsame Innovationsleistung und nicht als bloßer Ideen-Beschaffungsprozess verstanden werde.„ Das klingt banal, heißt in der Praxis aber, dass z. B. vorher mit allen beteiligten Partnern geklärt werde, wer das geistige Eigentum an den gemeinsam entwickelten Innovationen trägt und wie diese anschließend vermarktet werden.“

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