BERUF 05. Apr 2018 Sebastian Wolking Lesezeit: ca. 3 Minuten

Petzen am Arbeitsplatz gelesen

Zahlreiche Mitarbeiter denunzieren ihre Kollegen für kleinste Vergehen. Schuld daran ist auch die Digitalisierung.

Wer private Mails schreibt, sollte sich vor neugierigen Kollegen in Acht nehmen.
Foto: mauritius images/Begsteiger/Alamy

Petzen lauern überall: in der Schule, im Internet, im Freundeskreis. Auch am Arbeitsplatz sind sie allgegenwärtig. Das legt zumindest eine Studie kanadischer Wissenschaftler nahe. Demnach haben rund 58 % der Befragten schon einmal die unschöne Bekanntschaft mit einem Büro-Pedanten gemacht. Die Wissenschaftler bezeichnen sie im Original als „Dark Knights“ oder auch „Workplace Vigilantes“, als selbst ernannte Ordnungshüter am Arbeitsplatz. Es handelt sich um Arbeitnehmer, die Fehlverhalten oder Regelverstöße von Kollegen melden mit dem Ziel, diese Person direkt oder indirekt dafür zu bestrafen.

„Ich rede hier nicht über großartige Dinge oder Verfehlungen“, sagte einer der Studienteilnehmer, „sondern kleine Sachen, wie etwas zu nehmen und es nicht ordnungsgemäß wieder zurückzulegen oder eine Tür nicht abzuschließen, wenn man geht.“ Auch andere Teilnehmer berichteten von Kollegen, die ununterbrochen als Büro-Polizisten auftraten und „Kollegen für die geringsten Verfehlungen meldeten“. Wenn sie zum Beispiel keine Krawatte trugen oder die Mittagspause um zwei Minuten überzogen.

„Unsere Arbeit ist die erste, die Beweise dafür liefert, dass Ordnungshüter am Arbeitsplatz tatsächlich unter uns sind – in praktisch jeder Branche“, schreiben Organisationswissenschaftlerin Kathy DeCelles von der Uni Toronto und Karl Aquino von der University of British Columbia. Für die Betroffenen ist das ein echtes Problem. So berichteten manche über steigende Ängste, sinkende Motivation und inneren Rückzug. Aber auch die Petzliesen müssen mit Vergeltung rechnen, werden beschimpft, verhöhnt oder gleich ganz aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Besonders viele Dark Knights gibt es laut Studie in größeren und gewerkschaftlich organisierten Unternehmen. Frauen petzen häufiger als Männer. Auch sind bestimmte Branchen überrepräsentiert: Bildungseinrichtungen, Öffentliche Verwaltung, Hotellerie und Gastronomie. An der Studie nahmen aber auch Beschäftigte aus anderen Wirtschaftszweigen teil, aus dem Immobiliensektor, Einzelhandel, technischen Berufen. Kurzum: Das Phänomen durchzieht alle Büros und Baustellen.

In Deutschland fehlen derartige Untersuchungen. Eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Censuswide förderte zutage, dass es 84 % der Beschäftigten für eine Unsitte halten, Seiten im Drucker zurückzulassen. Weitere Ärgernisse: Wenn jemand heimlich an der Heizung dreht, das Druckerpapier nicht nachfüllt oder in Meetings private Nachrichten auf dem Handy schreibt.

Nun hat es Denunzianten und Kleinkarierte immer schon gegeben. Doch offenbar steckt mehr hinter diesem Phänomen: die Moderne. Die Digitalisierung macht es ihnen leichter. Im Internet treten sie in den Kommentarspalten als Trolle in Erscheinung. Im Unternehmen nutzen sie das hauseigene Hinweisgebersystem – oder eine App.

So wie bei den Schweizer Bundesbahnen (SBB), die im vergangenen Jahr für eine Kontroverse sorgten. Mit einer internen App konnten SBB-Mitarbeiter Kollegen ganz einfach per Handy kritisieren. Die Gewerkschaften witterten einen Aufruf zum Denunziantentum. „Alle Meldemöglichkeiten, welche die App bietet, gab es schon vorher, einfach auf anderen Kanälen, per Mail oder Telefon“, wiegelt ein SBB-Sprecher ab. Die App solle lediglich dafür sorgen, dass Schäden oder Defekte an den Zügen schneller gemeldet und behoben werden können. „Verstöße gegen interne Regeln können an die Compliance-Meldestelle gemeldet werden. Diese Meldungen sind vertraulich und anonym möglich.“

Automobilzulieferer Uniwheels arbeitet dagegen noch mit einem Ombudsmann. „Ja, dazu kommt es“, sagt Compliance Officer Inna Pääkkönen auf die Frage, ob Mitarbeiter gelegentlich auch Kleinigkeiten und Bagatellen an den Ombudsmann melden. „Meiner Meinung nach lässt sich das auch nicht vermeiden.“ Die Bad Dürkheimer planen schon die Einführung eines digitalen Hinweisgebersystems. Damit will das Unternehmen, das Leichtmetallräder herstellt, Sprach- und Zeitzonenbarrieren überwinden, mehr Hinweise gewinnen. Das könnte einerseits gelingen, andererseits aber auch mehr Dark Knights aktivieren.

Dax-Konzern Allianz arbeitet ebenfalls mit Hinweisgebersystemen. Die Versicherer machen auf ihrer Homepage extra darauf aufmerksam, dass dieses „nicht für Beschwerden“ sei. Ein Hinweis darauf, dass es in der Realität eben doch oft als Beschwerde-Hotline missbraucht wird?

Laut kanadischer Studie sind Unternehmen mit Beschwerde-Hotlines und formellen Beschwerdeverfahren tatsächlich anfälliger. Auch in Unternehmen mit Ethikrichtlinien sind Petzen überrepräsentiert. Denkbar ist, dass die immer strengeren Compliance-Vorgaben in den Unternehmen Aufpasser regelrecht anspornen. „Bagatellmeldungen entstehen eben, wenn Mitarbeiter ‚zu compliant‘ werden“, meint Pääkkönen. „Da kann es dazu kommen, dass eine Schachtel Pralinen als Bestechungsversuch eingeschätzt wird.“

Es gibt einen zweiten Trend, der das Denunziantentum begünstigt: die wachsende Selbstverantwortung der Mitarbeiter. So fanden kanadische Wissenschaftler um James R. Barker schon 1993 heraus, dass Beschäftigte in eigenverantwortlichen Teams dazu neigen, Kollegen zu verpfeifen. „Jetzt ist das gesamte Team um mich herum und das gesamte Team beobachtet, was ich tue“, klagte der Mitarbeiter einer kleinen Firma. „Während Arbeitslärm seine Stimme überdeckte, erzählte mir dieser Mitarbeiter, dass er sich jetzt stärker überwacht fühlte als in dem alten bürokratischen System seines Arbeitgebers“, schrieb Barker. Sein Chef sei immer tolerant gewesen, wenn er einmal zwei Minuten zu spät gekommen sei, so der Mitarbeiter. Sein Team sei das nicht mehr. Es verfolge eine Null-Toleranz-Politik.

Das Horrorszenaro lautet demnach also gar nicht: „Big Boss is watching you“. Sondern eher: „Everybody’s watching you.“ Die Ordnungshüter sind mitten unter uns und sie sitzen nicht zwangsläufig in der Chefetage.

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