Das Ende der verlängerten Werkbank
Der Erfolg des Wirtschaftsstandorts Deutschland hatte eine wesentliche Säule: die verlängerte Werkbank. Die Produktion personalintensiver Teile wird ausgelagert.
Foto: Banholzer
Die Gegenwart ist für Industriebetriebe in Europa ungemütlich, herausfordernd und anstrengend. Die Krise ist das neue Normal. Das ist die Beschreibung, die Politikberater Ansgar Baums und der Technikjournalist Thomas Ramge für die aktuelle Situation in ihrem jüngst erschienenen Buch wählen. Exportorientierung in berechenbare Märkte, lange und verflochtene Lieferketten, günstige Energieversorgung, konstante Produktivitätssteigerungen – ein Konstrukt, errichtet in Zeiten von geopolitischer Stabilität. „Das ist vorbei und unsere Systeme sind nicht mehr für die geänderten Rahmenbedingungen geeignet“, unterstreicht Baums neuerlich auf dem Maschinenbaugipfel des VDMA in Berlin. Die meisten Unternehmen sitzen laut Baums auf Lieferketten, deren Komplexität sie nicht verstehen, und das angesichts geopolitischer Verwerfungen.
Planungsunsicherheit als Waffe
Das meint auch Samina Sultan, Wirtschaftswissenschaftlerin beim Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Damit sich die EU hier behaupten kann, müsse sie wettbewerbs- und verteidigungsfähig sein, eine strategische Außenwirtschaftspolitik betreiben und neue Handelspartner gewinnen. „Die Zeiten, in denen wir all das an die USA auslagern konnten, sind endgültig vorbei.“ Und mit Blick gerade auf die USA: Planungsunsicherheit sei in der Wirkung schärfer als Zölle an sich, so Sultan. Ihre Empfehlung: Souveränität ist für Europa zentral! Es müssten neue Handelspartner identifiziert und mehr Diversifikation erreicht und neben der Stärkung der EU-Wettbewerbsfähigkeit müsse auch die der Verteidigungsfähigkeit priorisiert werden. „Wir stehen nicht am Ende der Globalisierung, sondern in einer Re-Globalisierung und einer Blockaufteilung zwischen China und USA.“ Die sich abzeichnende unterschiedliche Pfadentwicklungen von Technologien zum Beispiel in China und USA werde europäische Unternehmen zu Doppelstrategien oder zur Entscheidung für den einen oder anderen Pol zwingen, beschreiben Baums und Ramge.

Das aber erzeuge Reaktionen der jeweils anderen Seite, so Sultan: „Ich stelle mir die Frage, werden China oder die USA uns das jeweils durchgehen lassen?“ Allerdings könnte die EU selbstbewusster zum Beispiel gegenüber den USA auftreten. Sultan hat in einer Studie des IW im Auftrag des Auswärtigen Amtes herausgearbeitet, dass die USA abhängiger von Europa sind als angenommen. „Die USA haben bei zahlreichen Schlüsselprodukten kaum Alternativen zur EU“, so Sultan. Zahlreiche Waren ließen sich nicht kurzfristig ersetzen. Jürgen Matthes, Leiter des Themenclusters Internationale Wirtschaftspolitik beim IW und Co-Autor der Studie, ergänzt: „Weil die USA De-Risking von China betreiben, wird die EU für sie immer unverzichtbarer.“ Also habe Europa deshalb allen Grund, den Drohungen aus Washington mit mehr Selbstbewusstsein zu begegnen, meint Sultan. Nur: Europa kann diese Position nicht so offensiv ausspielen. Der Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft, Moritz Schularick, wird auf dem Maschinenbau-Gipfel deutlich: „Solange wir sicherheitspolitisch unmündig sind, sind wir handelspolitisch erpressbar.“
Und der Mittelstand?
Der Mittelstand wird oft als die Säule oder als Innovationsmotor des Wirtschaftsstandortes Deutschland beschrieben. Es wachsen aber die Zweifel, ob diese Struktur den kommenden Herausforderungen gewachsen ist. VDMA-Vorstandsmitglied Karl Haeusgen zeigt sich auf dem Maschinenbau-Gipfel ob der „Kleinteiligkeit der Branche“ skeptisch. Unternehmen mit unter 250 Mitarbeitenden bilden die Mehrheit der Mitgliedsunternehmen des VDMA. Gestützt wird das von einer aktuellen gemeinsamen Studie vom Kiel Institut und dem VDMA, derzufolge kleine Unternehmen stark von einzelnen Absatzmärkten abhängig sind. Kleine Unternehmen hätten doppelt so häufig eine hohe Abhängigkeit von China oder den USA im Vergleich zu großen Unternehmen. Das bedeutet, geopolitische und wirtschaftliche „Schocks wirken bei kleineren Unternehmen stärker als bei größeren Unternehmen“, weil Letztere besser diversifiziert seien, führt Kiel-Institutspräsident Moritz Schularick aus. Geoökonomische Risiken wie das absehbare Ende einer regelbasierten und offenen Weltwirtschaftsordnung führe bei kleinen Unternehmen zu besonders hohen Kosten. Strategien zur Risikodiversifizierung, Investitionen in Resilienz und eine aktive Begleitung durch Wirtschaftspolitik würden immer wichtiger, so das Fazit der Studie aus Kiel.
Geopolitical Statescraft und der Resilienzraum Europa
Was bleibt Europa und vor allem Unternehmen in Deutschland an Optionen? Alles in allem sei von den Unternehmen ein drastischer Umstellungsprozess gefordert. Und das wird teuer und setzt ein Umdenken voraus. In der Technologieentwicklung, in der Konzeption von Logistikketten und in der Beobachtungskompetenz von Geopolitik. Ansgar Baums appelliert: „Wir müssen akzeptieren, dass wir aus einer Position der Schwäche und Erpressbarkeit agieren.“ Seine Schlussfolgerung: Der Versuch diejenigen, die uns aktuell erpressen, kopieren zu wollen oder ihren Ansätzen hinterherzuentwickeln, müsse scheitern, denn der Nachbau von Technologien und das Aufholen sei viel zu teuer. Seine Alternative: Strategic Entrepreneurship. Japan habe es vorgemacht, wie die genaue Analyse von Wertschöpfungsketten dazu führen kann, eigene Stärken und USPs zu identifizieren und diese als Stärke gegenüber Wettbewerbern zu etablieren. Auf dem Maschinenbau-Gipfel kam zudem kein Panel ohne den Appel zu stärkerer Kooperation zwischen Unternehmen aus. Auch die Forderung nach mehr Orientierung an und in Europa war Konsens. „Europa ist der Resilienzraum, den wir haben“, betont Schularick. Dazu gehört auch die Beobachtung der geopolitischen Entwicklungen und die Auseinandersetzung mit Szenarien, oder wie Baums es nennt, das Aneignen von „geopolitical statescraft“. Unternehmen wie der Werkzeugmaschinenhersteller Trumpf setzen sich damit intensiv auseinander, wie deren Strategieexperte Thomas Schelkle unterstreicht, um so fundiert bessere Entscheidungen treffen zu können. Das schließe regelmäßig Abwägungen zwischen Marge und Liefersicherheit ein. Baums formuliert es so: Was Unternehmen in Deutschland und Europa brauchen, seien geopolitische Strategiemuskeln, die auf neue Situationen reagieren können. Und wie das bei Muskeln so ist, die müssen aufgebaut und trainiert werden. Das erfordere die Umstellung von Gewohnheiten, Anstrengung und Ausdauer. Noch ist das aber nicht allgemein im Bewusstsein.
Zwischen Naivität und kulturellen Prägungen

Laut der Analyse von Baums und Ramge haben einerseits Politik, Wirtschaft und Medien gleichermaßen die Zeichen der unterschiedlichen Pfadentwicklungen und die unterschiedlichen Ausprägungen von Globalisierung lange ignoriert. Und andererseits herrsche in Unternehmen angesichts der Krise immer noch eine Schlechtwettertaktik vor – die Hoffnung, „das zieht schon wieder vorbei“, sei schlicht falsch. „Die Krise bleibt“, so Baums. Der Kiel-Institutspräsident Schularick spricht von langjähriger, deutscher und europäischer Naivität zum Beispiel gegenüber China. „Die beste Chinapolitik ist, unser eigenes Land zu beschleunigen und zu entbürokratisieren.“ Unternehmen gerade im Maschinenbau müssen mehr kooperieren, sich Partner auch in Europa suchen. Die Politik ist aufgerufen, gerade kleinen und mittleren Unternehmen beim Zugang zu alternativen Märkten jenseits von USA und China zu helfen. Den Bürokratieabbau nicht nur für Start-ups und Mittelstand, hat der Bundeskanzler gerade wieder auf dem Maschinenbau-Gipfel versprochen. Alle diese Schritte müssen schnell und gleichzeitig erfolgen. Weil: Die verlängerte Werkbank wackelt immer mehr.