Lesetipps zur aktuellen Politik 26. Okt 2022 Von Peter Steinmüller Lesezeit: ca. 6 Minuten

Der Krieg in der Ukraine und die Zeitenwende – Diese Bücher helfen beim Verständnis

Carlo Masala, Karl Schlögel, Rüdiger von Fritsch: Diese Experten erklären nicht nur die Ursachen des Konflikts, sondern auch die sicherheitspolitischen Konsequenzen.

Das Leid, das der russische Krieg gegen die Ukraine ausgelöst hat, lässt viele Menschen nach den Gründen und vor allen Dingen nach Auswegen suchen. Die hier empfohlenen Bücher geben Antworten. Das Foto entstand auf einem ukrainischen Kriegsgräberfriedhof.
Foto: dpa Picture-Alliance/Reuters/Clodagh Kilcoyne

Der US-Historiker Timothy Snyder hat kürzlich in einem Kommentar darauf hingewiesen, wie sehr die Angst vor einem russischen Atomschlag die Urteilsfähigkeit der westlichen Öffentlichkeit über den Ukrainekrieg trübt. Die folgenden Bücher helfen bei der eigenen Meinungsbildung und gegen die Einflüsterungen russischer Desinformationskampagnen.

Carlo Masala: Weltunordnung

Seine Fans auf Twitter nennen ihn den „Drosten der Panzer“. Denn ähnlich wie der Virologe erklärt Carlo Masala sein anspruchsvolles Fachgebiet leicht verständlich und trotzdem präzise. Der Politikprofessor an der Universität der Bundeswehr München ist Experte für Sicherheitspolitik. Und dementsprechend seit Beginn des Ukrainekriegs omnipräsent in den Medien. Was Masalas öffentliche Auftritte auszeichnet, gilt auch für sein Buch „Weltunordnung“, das jetzt in der fünften Auflage erschienen ist: Eingängige Formulierungen, systematische Argumentation und präzise Analyse.

Carlo Masala zufolge haben Versuche, westliche Werte durchzusetzen, die Lage in den betroffenen Ländern oft genug verschlechtert. Hier feuert französische Artillerie im Jahr 2015 auf Positionen des Islamischen Staates im Irak. Foto: U.S. Army photo by Spc. Zakia Gray/public domain

Für Masala trägt der Westen eine große Mitschuld an der aktuellen Weltunordnung: Nach dem Mauerfall schien sich das westliche Politik- und Wirtschaftsmodell durchgesetzt zu haben. Auch in Russland und China würden sich die freiheitlichen Ideale früher oder später durchsetzen, so die Überzeugung. Aufgabe des Militärs war jetzt nicht mehr die Landes- und Bündnisverteidigung, sondern die Durchsetzung westlicher Werte und Interessen im Nahen und Mittleren Osten. Doch am Ende standen oft genug der Zusammenbruch ganzer Staaten und unvorstellbare Grausamkeiten, wie sie etwa der Islamische Staat verübte.

Um wieder zu mehr Stabilität in den internationalen Beziehungen zu gelangen, plädiert Masala für eine interessengeleitete Außenpolitik. Zumindest vorübergehend sollten Deutschland und seine Verbündeten Koalitionen mit Staaten eingehen, die gemeinsame Interessen verfolgen, etwa die Abwehr russischer Aggressionen oder die sichere Rohstoffversorgung. Eine „werteorientierte Außenpolitik“ muss dahinter zurückstehen. Was das in der Praxis bedeutet, haben die Reisen von Wirtschaftsminister Robert Habeck nach Katar und Saudi-Arabien gezeigt.

Über die geopolitischen Auswirkungen des Ukrainekrieges diskutierte Carlo Masala mit weiteren Experten des Podcasts „Sicherheitspod“

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Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew

Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel saß vier Tage nach dem Beginn des Ukrainekrieges bei Anne Will im Studio und forderte in Anlehnung an den Spanischen Bürgerkrieg die Gründung Internationaler Brigaden: „Eigentlich sollten wir nicht hier sein, sondern in Kiew.“ Der emeritierte Professor der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder gehört gewiss nicht zu jenen, die nach Kriegsausbruch beteuern mussten, sie hätten sich in Putin getäuscht. Davon zeugt Schlögels „Entscheidung in Kiew“, das im April in der siebten Auflage erschien. Schlögel veröffentlichte das Buch erstmals 2015, noch ganz unter dem Schock der Krimbesetzung und der russischen Militärintervention in der Ostukraine. Eindrucksvoll schildert der Historiker, wie ihn die Ereignisse getroffen haben, „weil es plötzlich um alles geht: um das, woran man ein Leben lang gearbeitet hat, weil man sich gleichsam verwundet fühlt“.

Während der großen Hungersnot in der Ukraine im Jahr 1933 graben Kinder auf einem Acker nach Kartoffeln. Dass durch Stalins Politik rund 4 Mio. Menschen dem Hunger zum Opfer fielen, prägt das Verhältnis der Ukraine zu Russland bis heute. Foto: public domain

Das Buch enthält Porträts von acht ukrainischen Städten, etwa Kiew, Odessa und Lemberg. Wie die Vielfalt ihrer Einwohner – Ukrainer, Russen, Deutsche, Osteuropäer – diese Städte geprägt und wie ihre Gesellschaften in den Gewaltorgien vom Ersten Weltkrieg, russischen Bürgerkrieg, stalinistischen Terror und dem deutschen Vernichtungskrieg untergingen, erzählt Schlögel mit geradezu literarischer Eleganz.

Schlögel schildert auch, wie er sich seine Kenntnisse über die Ukraine erst schrittweise zusammensuchen musste, weil in seinem Fachgebiet, der Geschichte Osteuropas, die Ukraine als eigenständiger Akteur jahrzehntelang vernachlässigt wurde. Seine Kritik an der Wahrnehmung der Ukraine in Teilen der deutschen Öffentlichkeit bei Erscheinen des Buches 2015 trifft auch noch sieben Jahre später zu: „Während jedermann etwas zur ,russischen Seele‘ einfiel, kam vielen – ausgerechnet den Deutschen, die zweimal im 20. Jahrhundert die Ukraine besetzt und verwüstet hatten – nicht mehr in den Sinn als das Klischee von den ewigen Nationalisten und Antisemiten. Fast ohnmächtig stand man dieser kompakten Ignoranz und Anmaßung gegenüber, die sich auf ihre Fortschrittlichkeit noch etwas einbildete.“

In diesem Vortrag von 2018 ging Karl Schlögel mit den vermeintlichen Russlandexperten hart ins Gericht: „Russland-Versteher – Wenn es doch welche gäbe!“

Rüdiger von Fritsch: Zeitenwende

Der russische Schachweltmeister und Aktivist Garri Kasparow hat Wladimir Putin einmal als „Händler des Zweifels“ bezeichnet. Mit widersprüchlicher Argumentation, mit Drohungen und systematischer Desinformation will er Öffentlichkeit und Entscheidungsträger im Westen verunsichern und zermürben. Wer einen eingängigen Überblick über die Faktenlage sucht, um den Erzählungen der Putin-Apologeten etwas entgegensetzen zu können, wird bei Rüdiger von Fritschs „Zeitenwende“ fündig. Von Fritsch trat sein Amt als deutscher Botschafter in Moskau genau zu dem Zeitpunkt an, als Putin die Krim annektierte und den Krieg im Donbass anzettelte. Doch mit Anekdoten aus seinem Diplomatenleben hält sich von Fritsch zurück, er konzentriert sich auf die Vorgeschichte des Ukrainekrieges.

Der damalige Kommandeur des deutschen Einsatzkontingents, Oberstleutnant Daniel Andrä, spricht mit der Bundesministerin der Verteidigung, Christine Lambrecht, während ihrer Einsatzreise zur Enhanced Forward Presence Battle Group in Litauen. Das Foto entstand zwei Tage vor Beginn des Kriegs im Februar 2022. Die Osterweiterung der Nato kam auf Initiative der osteuropäischen Staaten zustande, die Schutz von Russland suchten. Foto: Bundeswehr/Jörg Volland

Bestimmend für Putins Handeln ist demnach dessen Verständnis von der russischen Geschichte. Sie biegt der Autokrat so zurecht, dass sie als Sinnstiftung für seine Herrschaft taugt. Bereits im Sommer 2021 hatte Putin eine Schrift vorgelegt, in der er Russen, Weißrussen und Ukrainer als ein gemeinsames Volk darstellte. Die berüchtigte Rede zu Kriegsbeginn, in der er der Ukraine die Eigenstaatlichkeit absprach, war also keine nachträgliche Rechtfertigung seines Handelns, die Begründung für den Überfall hatte er bereits lange zuvor geliefert.

Weil Putin sich auf die Wiederherstellung des russischen Imperiums beruft, zerlegt er das immer wieder aufgebrachte Argument, er habe sich durch die Nato-Osterweiterung so bedroht gefühlt, dass er den einzigen Ausweg im Krieg gesehen habe. Von Fritsch zitiert die Worte Putins an ihn im Jahr 2004: „Hinsichtlich der Nato-Osterweiterung haben wir keine Sorgen im Hinblick auf die Sicherheit der russischen Föderation.“ Von Fritsch widerspricht auch Helmut Schmidt, der 1993 vor der Osterweiterung der Nato warnte. Es sei nicht vorstellbar gewesen den Balten, die gerade ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten, zu sagen: „Eure Geschichte deutscher Besetzung und sowjetischer Okkupation war schrecklich. Aber jetzt müsst ihr bitte selbst schauen, wie ihr euch mit euren 6500 Soldaten gegen die russischen Streitkräfte verteidigt.“

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Marat Gabidullin: Wagner – Putins geheime Armee

Yegor Komarov hatte bereits einen Mann ermordet und verspeist, als nach einem Verkehrsunfall eine kopflose Leiche in seinem Auto gefunden wurde. Das Letzte, was man von dem Kannibalen hörte, war, dass er aus dem Gefängnis entlassen wurde, um in den Reihen der Wagner-Gruppe in der Ukraine zu kämpfen. Die Söldnertruppe ist ein wesentlicher Teil der russischen Invasionskräfte in der Ukraine. Welche Bedeutung sie für die Moskauer Führung hat, zeigt sich darin, dass die russische Propaganda bereits über eine angebliche „Wagner-Linie“ mit Panzersperren und Schützengräben berichtet, die weitere Gebietsbefreiungen durch die ukrainische Armee verhindern sollen.

Doch aus welchen Schlagetots sich die Truppe bereits bei ihrer Gründung rekrutierte, schildert das Buch von Marat Gabidullin. Der Autor zeichnet sich zu Beginn selbst als gescheiterte Existenz: Zu Sowjetzeiten diente er als Offizier bei den Fallschirmjägern. In der Umbruchphase der 1990er-Jahre verdingte er sich als Auftragskiller der Russenmafia, kam ins Gefängnis. Aus dem Abstieg mit Depressionen und Alkohol befreite er sich durch das Anheuern bei Wagner. Die neu gegründete Truppe sollte die Separatisten im Donbass heimlich unterstützen. Die Erfahrungen dort frustrierten Gabidullin zutiefst. Gegen die ukrainischen „Brüder“ wollte er nicht kämpfen, die mit Moskau verbündeten Warlords hielt er für eine „Bande von bewaffneten Analphabeten“, „Erfüllungsgehilfen von Leuten, die vor nichts zurückschrecken“.

Syrische Kinder posieren 2018 für ein Foto, nachdem die Stadt Karama von syrischen Aufständischen vom Islamischen Staat (IS) befreit wurde. Die Wagner-Gruppe kämpfte auf Seiten der Regierungstruppen sowohl gegen den IS wie gegen die Aufständischen. Foto: U.S. Army photo by Staff Sgt. Ambraea Johnson/public domain

Gabidullins nächste Station war Syrien, wo die Wagner-Kämpfer im Bürgerkrieg gegen Aufständische eingesetzt wurden. Hier verliert sich das Buch endgültig in Landserlyrik und Machoprosa. Abgerissene Gliedmaßen, Loblied der Kameradschaft und Schimpfen auf die syrische Armee wechseln sich in den Schilderungen ab. Wer das durchhält, bekommt Einblicke in die Bedeutung der Wagner-Gruppe für Putins Politik: Sie ist ein Instrument der Außenpolitik, das jederzeit verleugnet werden kann. Ursprünglich wurde sogar ihre Existenz verneint, eine Zusammenarbeit mit ihr stritt die russische Regierung noch im Februar ab. In Syrien noch deutlich schlechter ausgerüstet als die reguläre russische Armee, beschweren sich mittlerweile russische Soldaten in der Ukraine, dass die Wagner-Söldner besser ausgestattet würden als sie selbst.

Dass Gabidullins teils wirre Selbstrechtfertigungen zurückgerückt werden, dafür sorgen die französischen Filmemacherinnen Ksenia Bolchakova und Alexandra Jousset in ihrem Vorwort.

Dieser Vortrag von US-Politikwissenschaftlerin Kimberly Marten von 2021 analysiert die Rolle der Wagner-Gruppe in der russischen Außenpolitik:

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