VDI-Kongress Automation 2021 02. Sep 2021 Von Martin Ciupek Lesezeit: ca. 5 Minuten

Nach zehn Jahren Industrie 4.0 stockt die Umsetzung – hier gilt es jetzt anzusetzen

Wer nach zehn Jahren Industrie 4.0 global die Führungsrolle hat und was deutsche Unternehmen bremst, war Thema einer Podiumsdiskussion auf dem VDI-Kongress Automation 2021 im Sommer. Vertreter aus Industrie und Forschung diskutierten, weshalb jetzt mehr Tempo gemacht werden muss.


Foto: panthermedia.net/Olivier26

Der Appell auf dem VDI-Kongress Automation 2021 Ende Juni war deutlich: „Wir haben die Technologien. Wir könnten damit jetzt auf die Straße kommen. Aber gerade in der Prozessindustrie machen wir das, was wir schon können, noch nicht möglich.“ Das sagte Dagmar Dirzus, Geschäftsführerin der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA) Ende Juni in einer Diskussionsrunde zu zehn Jahren Industrie 4.0 im Rahmen der zweitägigen Veranstaltung. Im Jahr 2011 und in den Folgejahren hätten sich auf den Automationskongressen die wichtigsten Personen aus der Branche getroffen und man habe mit einem Knall gerechnet. „Der große Booster ist aber ausgeblieben“, stellte sie fest.

Ähnlich bewertete das Detlef Zühlke. Der Initiator der SmartFactory in Kaiserslautern sagte: „Die Welt hat drauf gewartet. Und es war gut für uns, dass wir in Deutschland diese Idee hatten und vorangebracht haben.“ Er forderte, ebenso wie der ehemalige Festo-Vorstandsvorsitzende Eberhard Veit, mehr Tempo bei der Umsetzung.

Wettbewerbsvorteil Applikationswissen

Veit sieht derzeit noch einen wichtigen Wettbewerbsvorteil im riesigen Applikationswissen deutscher und europäischer Unternehmen. „Allein mit Software und Vernetzung ist noch keine gute Maschine gebaut“, stellte er fest. Das Fachwissen in der Anwendung und die Komponenten seien hier vorhanden. Aber: „Wir müssen jetzt mehr in die Umsetzung kommen“, machte der Gesellschafter der 4.0-Ve IT GmbH deutlich.

Was aber fehlt? „Viele meinen, die Industrie 4.0 sei ein Geschäft. Aber das ist nur ein Enabler für Geschäfte, wie grüne Energie. Das ist ein Vehikel, um in Zukunft wettbewerbsfähiger zu sein“, hob Veit in der Diskussion hervor. Gebremst würde die Umsetzung in Deutschland dabei oft von den bisherigen wirtschaftlichen Erfolgen. „Unsere Wirtschaft ist in den letzten acht bis zehn Jahren mit alten Kochrezepten gewachsen. Zudem ist die deutsche Veränderungsbereitschaft sehr gering“, stellte er fest und verwies auf seine Erfahrungen in Gremien und mit Aufsichtsräten. „Man verändert Dinge nicht unter einem so hohen Druck, wie es vielleicht notwendig gewesen wäre“, lautete dazu sein ernüchterndes Fazit.

Bildungslandschaft digitalisieren

Wichtig ist Veit aber auch die Bildungslandschaft zur Digitalisierung. Bereits in seiner Zeit bei Festo hatte er das Konzept der Lernfabriken vorangetrieben. Ausbildungsformate müssten anwendungsnah sein, sagte er. Außerdem gelte es junge Menschen zu begeistern. Durch Lernfabriken in Schulen habe man bei Festo beispielsweise an einer Oberstufe das Interesse an Technologie von 14 % auf etwa 52 % steigern können.

Genau hier sieht auch Christian Gülpen noch erhebliches Potenzial. Der Bereichsleiter für Digitalisierung am Institut für Technologie- und Innovationsmanagement (TIM) an der RWTH Aachen erinnerte sich an eine Forschungsausschreibung zur Stärkung des Interesses an Mathematik, Informatik und Technik (MINT) an Schulen. Hier habe sich sein Institut viele Gedanken gemacht, wie sich das mit einem Computerspiel nach dem Vorbild von Mindcraft umsetzen lasse. Die Finanzierung einer solchen Neuentwicklung wurde aber abgelehnt, weil es nur darum gehen sollte, Kinder für einen halben Tag ins Labor oder in die Maschinenhalle zu bekommen. „Aber was wollen die da, wenn sie nichts anfassen dürfen“, fragte er in die Runde. Seine Forderung: „Wenn wir die Ausbildung besser machen wollen, müssen wir genau da ansetzen.“

Mit Blick auf die Unternehmen sagte Gülpen, dass Industrie 4.0 bei Effizienzmaßnahmen in den Fabrikhallen bereits gut umgesetzt werde und auch gut messbar sei. Deutlich schlechter laufe es dagegen bei den Nutzenaspekten, die durch neue Geschäftsmodelle entstünden. Teilweise würden z. B. in der Pharmabranche unternehmensintern strengere Regularien verfolgt als gesetzlich nötig. Dadurch würden Innovationen verhindert.

Offenheit für Vernetzung fehlt oft

Ein höheres Innovationstempo werde noch durch einen weiteren Aspekt verhindert, so Gülpen: „Das Coole an Industrie 4.0 ist ja das Vernetzen, der Datentausch. Das kann ich nur, wenn ich mich was traue.“ Unternehmer suchten aber oft nach Erfolgsbeispielen anderer Geschäftsführer und würden erst einmal abwarten. Neben dem Vertrauen in die Technik brauche es beim offenen Datenaustausch auch Vertrauen in die nachgelagerten Partner. Angst sei hier ein großes Hindernis. „Wir können kollaborativ viel mehr tun, als wir das allein können“, stellte er fest und verglich das mit den Ansätzen zur Open Innovation. „Niemand sagt, gemeinsam innovieren ist schlecht. Gemacht wird es aber nur selten, weil alle Angst davor haben, dass man rauskriegt, was man selbst gerade entwickelt.“

Die Arbeit an Standards für den Datenaustausch bewertet Gülpen zwar als hilfreich, aber nicht als entscheidend. „Wenn wir über neue Geschäftsmodelle sprechen, dann war das Problem fast nie, dass ein technischer Austauschstandard gefehlt hätte. Dort wo Unternehmen bereit waren Daten auszutauschen, haben sie das technologisch hingekriegt“, sagte er. Bisher werde das allerdings nur unter enormen Hürden getan. Insbesondere bei Künstlicher Intelligenz (KI) werde aus Unsicherheit oft abgewartet. Hier gelte es zunächst die Frage zu klären, wer vom KI-Einsatz am meisten profitiert – derjenige, der die Daten liefert, mit denen das Modell trainiert wird, oder derjenige, der den Service später nutzt. Gülpen: „Das ist ein Effekt, der den Open-Innovation-Themen sehr ähnlich ist. Wir müssen einfach losgehen und machen, auch wenn es zunächst monetär vielleicht nicht viel bringt.“ Er verweist auf den Wert der Lerneffekte, die sich durch Industrie 4.0 ergeben hätten und nun auch zu wirtschaftlichen Erfolgen führten. „Das müssen wir jetzt auch bei der Frage hinbekommen, wie wir künftig Daten teilen.“

Mängel in der Umsetzung

Zur aktuellen Umsetzungsgeschwindigkeit sagt Veit: „KI oder 5G-Mobilfunktechnologien werden in Deutschland oftmals in einem gewissen Maße erforscht und hervorragend aufbereitet, aber die Umsetzung in den Unternehmen leidet signifikant.“ Er wünscht sich mehr Aufbruchstimmung. „Wir brauchen Lust am Innovieren und nicht nur am Forschen. Wir brauchen die Lust und den Mut, das auch umzusetzen, Mut zum Unternehmertum.“ Die Welt sei nicht nur aus der Vergangenheit ableitbar.

Unternehmen legt Veit einen „agilen Sprint“ nahe. Im Begriff agil stecken für ihn dabei die Themen Architektur, Geschäftsmodelle, Innovationskraft und Lernfeldausbildung. Im Begriff Sprint seien dagegen die nach innen notwendigen Verhaltensregeln abgebildet, wie speed für die Geschwindigkeit, das gemeinsame Engagement in Unternehmen (participation), die Zuverlässigkeit der Technik (reliability), die Inspiration, die Notwendigkeit (need) und das Vertrauen (trust) der Menschen in diese neue Welt. „Der agile Sprint, wie ich ihn interpretiere, ist also wirklich ein Kochrezept, das in den Unternehmen nicht nur ein Slogan, sondern eine gelebte Praxis sein muss“, unterstrich der Industriemanager.

Veit sieht aber auch die Bundesregierung in der Pflicht. Er verwies auf die Clusterwettbewerbe im Zusammenhang mit Industrie 4.0, wo die Zusammenarbeit von Hochschulen, regionalen Unternehmen und Politik mit über 600 Mio. € gefördert wurde. „Das war eine Initiative, die bahnbrechende Themen vorangebracht hat.“ Die Orchestrierung lief dabei über den Staat. „Es ist wieder an der Zeit, deutschlandweit Cluster- und Spitzenclusterkonsortien zu starten“, forderte Veit.

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