Emscher: Die letzten 100 Tage mit Abwasser
Der Countdown läuft, bis die Emscher komplett abwasserfrei sein muss. Über mehr als 100 Jahre diente der Fluss als oberirdischer Abwasserkanal.
Über ein Jahrhundert war es ein widerwärtiger Ort. „Im Stadtteil Barop riecht es plötzlich nach faulen Eiern, in Dorstfeld liegen ätzende Schwaden über der Wasseroberfläche, in Holthausen macht sich eine schwere Süße breit. Kein Fluss der Welt ist so abwechslungsreich in seiner Abscheulichkeit, keiner bietet bei aller monotoner Traurigkeit so viele Überraschungen.“ So beschrieb Michael Holzach die Emscher.
Der Journalist starb bei einem tragischen Vorfall in dem Fluss, der die Abwässer der gesamten Emscherzone im nördlichen Ruhrgebiet mit 2,4 Mio. Einwohnern oberirdisch ableitet. Nun wird auch diese Praxis ihr Ende finden. Heute sind die letzten 100 Tage mit Abwasser in dem Gewässer sind angebrochen. Nach dem 31. Dezember 2021 darf sie nur noch Grund- und Regenwasser führen, fast wie ein normaler Fluss.
Riesiges Bauprojekt schafft eigenen Kanal
Möglich wird das durch ein riesiges Bauprojekt in der Wasserwirtschaft. Allein in den Hauptkanal wurden 1,2 Mrd. € investiert. Das gesamte Projekt hat annähernd 5 Mrd. € gekostet. Ziel ist, dass Abwässer, die vorher oberirdisch durch den Fluss transportiert wurden, nun getrennt in einem eigenen Kanalnetz verlaufen. Der Emscherkanal ist der sogenannte Hauptsammler, der Tiefpunkt also eines Abwassersystems, in dem die Brühe nun unterirdisch fließt. Bei einer Länge von 51 km und einem benötigten Gefälle von 1,5 Promille hatte die Emschergenossenschaft den Kanal in 80 m Tiefe verlegen müssen, wäre er in einem geraden Stück gebaut worden.
Stattdessen entschieden sich die Ingenieure für den Bau von drei riesigen Pumpwerken. Wie ein Aufzug befördern sie das Wasser aus bis zu 40 m Tiefe wieder nach oben, damit der nächste Kanalabschnitt wieder näher an der Oberfläche verlegt werden kann. Insgesamt sind es drei Pumpwerke: Die beiden in Gelsenkirchen und Bottrop gingen 2018 in Betrieb, das dritte und größte in Oberhausen wurde im August in Betrieb genommen.
Gute Erfahrung mit Pumpwerken
Technisch sind die Bauwerke – bis auf ihre große Förderhöhe von 25 m bis 35 m – nichts Außergewöhnliches, sagt Reinhard Keteler, Gebietsmanager für den Emscher-Hauptlauf und Gesamtprojektleiter des Projekts Abwasserkanal Emscher (AKE), zu dem eben auch die Pumpwerke gehören. „Die Erfahrungen mit Pumpwerken sind bis jetzt gut“, erklärt er. „Sie fördern bis zu 16,5 m3/s und laufen stabil.“ An Technik verbaut wurde nur, was sehr erprobt ist, von dem man wisse, dass es funktioniere.
Bei der Planung hingegen hat sich das Team weiterentwickelt. Das letzte Pumpwerk in Bottrop wurde komplett 3-D-modelliert und in der Planungsmethode des Building Information Modelings – kurz BIM – geplant. Dabei wird schon viel festgelegt und im Detail geplant, bevor der Bagger rollt. In die Realität umgesetzt hat die Planung für dieses Pumpwerk der österreichische Baukonzern Porr. Die anderen beiden sowie der größte Teil der Kanalstrecken wurden noch konventionell geplant.
Autonomes Kanalinspektionssystem
Digitale Daten wird auch das autonome Kanalinspektionssystem liefern, das in den ersten drei Jahren den Hauptkanal auf seiner kompletten Länge zweimal durchfahren muss. Das System wurde extra für dieses Projekt entwickelt.
Bis zur Deadline Ende des Jahres gibt es aber noch einiges zu tun. Denn während der Hauptlauf nun fertiggestellt und in Betrieb gegangen ist, müssen noch diverse Nebenläufe an das System angeschlossen werden. Dies geschied in den nächsten 100 Tagen. Dann wird der Fluss in einem ersten Schritt von neuem Abwasser verschont bleiben.
Die Renaturierung wird noch länger dauern. In Dinslaken wird aktuell an einer renaturierten Flussaue gearbeitet. Die Emscher wird künftig 500 m weiter nördlich in den Rhein münden. Aktuell fließt sie noch über ein sogenanntes Absturzbauwerk, das eine bis zu 6 m hohe ökologische Barriere zwischen den beiden Flüssen bildet. Doch mit jedem Tag verwandelt sich der ehemalige Abwasserkanal wieder zurück in einen – zumindest naturähnlichen – Fluss.