Kernenergie? Deutschland bleibt skeptisch
Hohe Kosten, lange Planungszeiten und politische Risiken stehen einem Comeback der Kernenergie im Weg.

Foto: picture alliance/dpa/Lars Klemmer
Inhaltsverzeichnis
- Die Option Kernkraft ist in Deutschland politisch ein hohes Risiko
- Erneuerbare lassen sich schneller als Kernkraft zubauen
- Wie kommt es, dass die Kernenergiedebatte nach Deutschland schwappt?
- Energieberater sehen Kernkraft für Deutschland nicht als Option
- Was wäre fachlich zu beachten, würde eine neue deutsche Bundesregierung Kernkraft wieder zur Stromversorgung nutzen wollen?
- Europaweite Debatte zu Kernenergie, Sicherheit und Entsorgung spielen keine Rolle
- Chinesischer Solarstrom wird 2030 weltweit Atomstrom ausstechen
Es ist schon mal eine Prioritätensetzung: Im heute verabschiedeten „Sofortprogramm für Wohlstand und Sicherheit“ der CDU steht die Wiedereinführung der Kernkraft als Energieträger – oder die Prüfung dieser Option – in Deutschland nicht drin. Die Senkung von Stromsteuern und Netzentgelten ist Priorität Nummer eins des 15-Punkte-Programms, an Nummer 7 steht die Wiedereinführung der Agrardieselrückerstattung, Top 8 kassiert das Heizungsgesetz in der Version der Ampel.
Das dürfte also Zeit geben, sich auszutauschen in diesem in der Energiepolitik Deutschlands so heiklen Punkt. Auch wenn die Partei laut Wahlprogramm an der „Option Kernenergie“ festhalten will. Sie setzt auf „die Forschung zu Kernenergie der vierten und fünften Generation, Small Modular Reactors (SMR) und Fusionskraftwerke“ – alles keine schnellen Optionen, sondern langfristig angelegt.
Seit Längerem – verstärkt, seitdem feststeht, dass der Bundestag neu gewählt wird – ist Kernenergie in Deutschland ein Thema im politischen Diskurs. In den letzten Wochen haben sich Ingenieure dazu zu Wort gemeldet. Der Obertenor (s. unten): „Kernenergie kann eine begrenzte Option sein, die Zukunft gehört aber den erneuerbaren Energien.“ Die dahinterstehenden Argumente sind nicht neu, es lohnt sich aber, sie noch einmal anzusehen.
Die Option Kernkraft ist in Deutschland politisch ein hohes Risiko
„Ich denke nicht, dass zurzeit jemand ernsthaft politisch das Risiko tragen würde, einen KKW-Neubau konkret ins Auge zu fassen. Unsere Demokratie ist doch wohl zu plural, um solch eine langfristige Entscheidung wieder aufzugreifen“, so VDI-Experte Walter Tromm, Programmsprecher Nukleare Entsorgung, Sicherheit und Strahlenforschung (Nusafe) beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und wissenschaftlicher Sprecher des KIT-Zentrums Energie.
Auf die Frage, wie die derzeit – auch durch den Wahlkampf angestoßene – Debatte in Deutschland zu bewerten sei, sagte er VDI nachrichten weiter: „Deshalb wird man sicher erst einmal erwägen, die Kohlekraftwerke als Netzstützpunkte vielleicht auch über den heute vorgesehenen Abschaltzeitpunkt weiterlaufen zu lassen, eventuell mit CCS oder CCU. Daran sieht man aber auch, dass es wohl besser gewesen wäre, die letzten sechs oder zumindest die letzten drei KKW weiterlaufen zu lassen. Eine andere Option wäre, dass die deutschen Betreiber sich an Neubauten im umliegenden Ausland beteiligen.“
Erneuerbare lassen sich schneller als Kernkraft zubauen
Schon 2022 hatte Nusafe prognostiziert, dass Kernenergie bis 2040 leicht zunehmen werde. In einer Ringvorlesung am KIT antwortete Tromm damals auf die Frage, ob es sich lohne, Kernenergie weiterhin auszubauen, oder ob stattdessen in den Ausbau der erneuerbaren Energien investiert werden sollte: „Das ist eine sehr kritische Frage. Wir am KIT, und ich persönlich, sind der Meinung, wir müssen die erneuerbaren Energien vorantreiben.“
Das hat unter anderem damit zu tun, dass sowohl eine schnelle Dekarbonisierung als auch ein schneller Zubau von erneuerbaren Energien einfach den Energiehunger der aufstrebenden Wirtschaftsnationen günstiger und rascher befriedigen können. Und so sich auch Klimaschutzziele umsetzen lassen. Obwohl die Internationale Energieagentur (IEA) in Paris eine Renaissance der Kernenergie – auf Basis entsprechender Fördermaßnahmen – für möglich hält, sieht auch sie die Erneuerbaren als zukünftige Hauptenergiequelle für Strom.
Im Szenario „Announced Pledges“, das heißt, dass alle Staaten ihre Zusagen aus dem Pariser Abkommen einhalten, prognostiziert die IEA einen Anstieg der Kernenergieproduktion in der EU auf 860 TWh bis 2050. „Der Anteil an der Stromproduktion würde jedoch dabei weiter auf 15 % zurückgehen“ heißt es seitens der VDI-Gesellschaft Energie + Umwelt, die die jüngste Studie der IEA zur Kernenergie analysiert hat. Und der gesamte Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung in der EU könnte bis 2050 von 45 % (2023) auf 84 % wachsen.
„Diese Zahlen sprechen dafür, dass trotz eines prognostizierten Anstiegs der Kernenergieproduktion die erneuerbaren Energien der entscheidende Treiber der Energiewende bleiben“, erklärt VDI-Energieexperte Harald Bradke, stellvertretender Sprecher der Fraunhofer-Allianz Energie und Vorsitzender des Interdisziplinären Gremiums Klimaschutz und Energiewende des VDI. „Die Rolle der Kernenergie bleibt in diesem Kontext begrenzt“, so Bradke weiter.
Wie kommt es, dass die Kernenergiedebatte nach Deutschland schwappt?

Neben dem Wahlkampf ist ein Grund, dass in anderen Ländern, wie in den USA, schon seit mehr als zehn Jahren massiv an einer Renaissance der Kernenergie mit staatlicher Förderung gearbeitet wird. Das spricht sich rum, vor allem weil international agierende Branchen, zum Beispiel die Chemie, global Energiepreise vergleichen. Da kann eine staatlich geförderte Kernkraft, die obendrein weniger CO2 emittiert als Kohle- und Gaskraftwerke, aus Unternehmenssicht durchaus gut abschneiden. Das ist ja auch die Forderung der IEA in ihrem letzten Bericht: Die Kernkraft kann dann reüssieren, wenn die finanzielle Förderung sichergestellt ist.
Das zeigt ein Beispiel, das die Mitteldeutsche Zeitung Anfang 2024 beschrieb. Christof Günther, Geschäftsführer von Infraleuna, prangert die hohen Energiepreise seit Langem an. Er war auch kein Befürworter des deutschen Atomausstiegs. Und schaute über den Großen Teich: Heute gebe es an Chemiestandorten in den USA Projekte mit kleineren Reaktoren, schrieb die Mitteldeutsche Zeitung, und zitiert Günther: „Der Hintergrund ist dabei immer auch die Klimafreundlichkeit. Die gesamte Chemie braucht viel verlässliche und günstige Energie.“
Die Gegenargumente fand die Mitteldeutsche Zeitung gleich vor Ort: „Die Akzeptanz vor Ort, die lange Planungszeit – vor 2040 würde da nichts stehen – und man bräuchte Abnahmegarantien für den Strom von mindestens 30 Jahren, damit es sich rechnet“, zitierte die Zeitung den SPD-Landtagsabgeordneten Andreas Schmidt.
Energieberater sehen Kernkraft für Deutschland nicht als Option
Sowohl die Zeitskala als auch die Kosten sind tragende Gegenargumente. Für Deutschland sei eine Renaissance der Kernkraft keine Option, so der Diplomingenieur Hermann Dannecker vom Deutschen Energieberater-Netzwerk DEN. Nicht nur dass die nötigen Mittel vonseiten des Staates gar nicht vorhanden seien. Hinzu käme die Frage der Herkunft des Brennstoffs. Stichwort: Abhängigkeit von Russland. „Die Politik sollte aus ökonomischen und ökologischen Gründen jetzt Kurs halten bei der Stromerzeugung“, sagt der Ingenieur. Sonst erweise „sich die Politik als noch weniger zuverlässig als Wind und Sonne bei der Stromversorgung“.
Was wäre fachlich zu beachten, würde eine neue deutsche Bundesregierung Kernkraft wieder zur Stromversorgung nutzen wollen?
VDI-Experte Tromm gibt zu erkennen, dass eher an Neubauten an gleichen Standorten zu denken ist als daran, die Altanlagen wieder flottzumachen: „Zuerst müsste ein Betreiber oder ein privater Konzern die Absicht haben, ein KKW zu bauen. Dann müsste zunächst die Gesetzeslage wieder geändert werden, da es ja nach § 7 AtG verboten ist.“ Seit 2002 dürfen keine Genehmigungen mehr für die Errichtung von Kernkraftwerken zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität erteilt werden. Wesentliche Änderungen bestehender Kernkraftwerke oder ihres Betriebs sind hingegen möglich, bedürfen aber der Genehmigung (§ 7 Abs. 1 und 2 AtG).
Und dann müsste ein neues Genehmigungsverfahren angestoßen werden. Die Standorte könnten sicher genutzt werden, dafür müssten aber die alten Anlagen zunächst rückgebaut werden, so Tromm: „Da aber ein neues Genehmigungsverfahren sicher auch circa zehn Jahre dauert, wäre das vermutlich ein ähnlicher Zeitraum.“ Anschließend könnte Kernenergie dann natürlich eine Dekarbonisierungsoption zusammen mit erneuerbaren Energiequellen sein. „Da die neuen SMR noch besser regelungsfähig sind als bestehende KKW, könnten sie sehr gut gemeinsam mit den Erneuerbaren eingesetzt werden, abgesehen von der auch notwendigen Wasserstoffproduktion oder der Derivate“, so Tromm weiter.
Der Kraftwerkstyp wäre Bestandteil der Genehmigung. Während es für Großanlagen in Europa Erfahrungen und Vorbilder gebe, sehe das bei SMR derzeit anders aus, so Tromm. „Für diese Anlagen müsste man mit den Ländern in Europa zusammenarbeiten, die das zurzeit ins Auge fassen, sicher gemeinsam mit den deutschen TÜVs, die ja in den Ländern in Europa schon beratend aktiv sind“, so Tromm. Konkret bestehe für den BWRX-300 in Kanada Erfahrung bei der CNSC (Canadian Nuclear Safety Commission), da dieser SMR in Darlington, Ontario, gebaut werde.
Europaweite Debatte zu Kernenergie, Sicherheit und Entsorgung spielen keine Rolle
Die Debatte zu einer Renaissance der Kernenergie gibt es europaweit, nicht nur in Ländern, die die Kernenergie ohnehin nutzen, wie Großbritannien, Frankreich, Finnland oder Ungarn. Sogar in Norwegen, das sich fast gänzlich auf Basis von Wasserkraft mit Strom versorgt, hat die Regierung im Frühling 2024 einen Ausschuss eingesetzt, der eine mögliche Nutzung von Atomenergie im Land überprüfen soll. Schweden setzt seit 2022 unter einer neuen Regierung mit nationalkonservativer Beteiligung wieder auf Kernkraft: Bis 2045 sollen zehn neue Reaktoren gebaut werden.
In diesen Debatten steht in der Regel weder die Entsorgungsfrage noch die Sicherheit der Anlagen explizit im Vordergrund – zwei Hauptpunkte, die die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten in Fragen der Kerntechnik umtrieb. Und sie immer noch umtreibt, wenn man an die Orte schaut, an denen Kerntechnik heute noch eine Rolle spielt. So droht in Deutschland die Suche nach dem nuklearen Endlager zur Ewigkeitslast zu werden. Daher stellt sich für die Menschen an den eingerichteten Zwischenlagerstandorten die Frage: „Wie lange lässt sich Atommüll zwischenlagern?“
Chinesischer Solarstrom wird 2030 weltweit Atomstrom ausstechen
Von einem Boom beim Neubau von Atomkraftwerke ist zumindest nach Angaben des Internationalen Wirtschaftsforums Regenerative Energien (IWR) aus Münster derzeit nicht auszugehen. Es zitiert die letzten Zahlen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) für 2024. Ihnen zufolge hat es netto weltweit zwei Kernkraftwerke mehr gegeben: Sechs seien gebaut, vier stillgelegt worden. Auch das IWR zieht das Kostenargument: „Wenn China sein aktuelles Tempo beim Bau von Solaranlagen bis 2030 fortsetzt, wird das Land schon am Ende des Jahrzehnts mit eigenem preiswerten Solarstrom ganz alleine die heutige Stromerzeugung der gesamten globalen Atomkraftwerksflotte überholen“, so IWR-Chef Norbert Allnoch.
Malte Küper, Energieexperte beim industrienahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln sieht die kleinen Reaktoren (SMR) nicht als Schlüsseltechnik. „Die kleinen Reaktoren werden voraussichtlich keine nennenswerte Rolle dafür spielen, dass Deutschland 2045 und die EU 2050 klimaneutral sein wollen. Dafür kommen die Anlagen zu spät und bleiben auf absehbare Zeit zu teuer“, sagte er im November 2024 der Stuttgarter Zeitung. „Um das Klimaziel zu erreichen, sollten wir die Technologien einsetzen, die wir heute schon zur Verfügung haben und die sich im Bereich der erneuerbaren Energien stetig verbessern.“