Modellbau 09. Sep 2016 Von Jens D. Billerbeck Lesezeit: ca. 6 Minuten

Miniatur-Wunderland: Die ganze Welt im Speicher

In Hamburgs Speicherstadt steht das Miniatur-Wunderland, die größte Modelleisenbahnanlage der Welt. In drei Wochen wird sie um den Abschnitt „Italien“ erweitert. Ein Besuch vor und hinter den Kulissen.

Hamburgs Hauptbahnhof: Auch im Maßstab 1:87 zeigt der Verkehrsknotenpunkt der Hansestadt reges Treiben.
Foto: J. D. Billerbeck

Es brennt mal wieder im Schloss von Knuffingen. Sofort machen sich mehrere Feuerwehrautos auf den Weg aus dem Ort hinauf auf den Schlossberg und beginnen mit den Löscharbeiten. Derweil geht auf dem Bahnhof der planmäßige Zugverkehr ungestört weiter. Aber wo bitte liegt dieses Knuffingen? Es liegt mitten in der weltberühmten Hamburger Speicherstadt und ist der älteste Teil des Miniatur-Wunderlandes, der größten Modelleisenbahnanlage der Welt. Knuffingen ist das Abbild einer typisch deutschen Mittelgebirgsstadt im Maßstab 1:87.

Es ist ein Freitag im Juli, Ferienzeit. Da öffnet das Wunderland um 8 Uhr seine Pforten. Erste Besucher sind schon vorher am Eingang und warten geduldig. Schnell füllen sich die Gänge rund um die riesige Modellbahnanlage, die sich über zwei Etagen des alten Kaispeichers erstreckt. Jung und Alt, Männer und Frauen.

Modelleisenbahn als Touristenattraktion

Angefangen hat alles mit einem Traum: eine riesige Modelleisenbahnanlage als Touristenattraktion zu schaffen. Frederik Braun und sein Zwillingsbruder Gerrit schafften es durch hartnäckige Überzeugungsarbeit, den Start zu finanzieren. Ende 2000 begannen die Bauarbeiten und im August 2001 war Eröffnung. „Mein Traum war: jeden Tag 1000 Besucher, also 1 Mio. nach drei Jahren“, erinnert sich Frederik Braun an die Anfangsjahre.

Foto: J. D. Billerbeck

Wir spielen, was die Besucherzahlen angeht, in einer Liga mit Schloss Neuschwanstein. Letztes Jahr hätten wir die beinahe geschlagen.

Frederik Braun
mit seinem Zwillingsbruder Gerrit Erträumer und Chef des Miniatur-Wunderlandes

Von Beginn an übertraf das Miniatur-Wunderland die Erwartungen und lockte jedes Jahr mehr Menschen in die Speicherstadt. „Dieses Jahr werden es wohl 1,3 Mio. werden“, sagt Braun und weiß: „Wenn wir die Kapazität hätten, hätten wir schon 1,5 bis 1,8 Mio. Besucher jährlich.“

Der Vesuv im Rohbau. In der fertigen Anlage soll ein Lavastrom die Spalte im Berg ausfüllen.

Foto: J. D. Billerbeck

Auch das berühmte Pompeji wird im Miniatur-Wunderland zu erleben sein.

Foto: J. D. Billerbeck

Die italienischen Lichtsignale haben die Modellbauer mit viel Aufwand nachgebildet.

Foto: J. D. Billerbeck

Das wird einmal eine Knopfdruckattraktion: Drücken Besuchende auf einen Knopf, fährt der kleine Fiat 500 in die Werkstatt. Es lärmt und leuchtet und kurze Zeit später kommt er als Monstercar mit riesigen Reifen wieder zum Vorschein.

Foto: J. D. Billerbeck

Hier entsteht das römische Colosseum im Maßstab 1:87.

Foto: J. D. Billerbeck

Auch der Petersdom darf nicht fehlen, wenn Italien im Wunderland lebendig werden soll. Bis zur Fertigstellung dauert es noch ein wenig.

Foto: J. D. Billerbeck

Star Wars trifft Wunderland: Irgendwie ist der Millenium-Falke von Han Solo auf den Hambruger Flughafen gekommen.

Foto: J. D. Billerbeck

Massenladung: Geht den Mini-Autos auf der Anlage der Saft aus, steuern sie automatisch eine Ladestation an und tanken wieder auf.

Foto: J. D. Billerbeck

Schon viele Prominente haben dem Miniatur-Wunderland seit seiner Eröffnung einen Besuch abgestattet.

Foto: J. D. Billerbeck

Wer kennt die Völker? Auf dieser Tafel wird angezeigt, aus welchen Ländern wie viele Besucher im Wunderland zu Besuch waren.

Foto: J. D. Billerbeck

Zukunftsträume: In wenigen Jahren soll hier eine Brücke vom Ur-Wunderland über das Fleet in den Nachbarspeicher führen. Dort wird dann u. a. England nachgebildet.

Foto: J. D. Billerbeck

Vor 15 Jahren waren die selbstfahrenden Feuerwehrautos eine echte Sensation. Vor allem Gerrit Braun lebte hier seine Leidenschaft für technische Tüfteleien aus. Zwar gab es das Faller Car System als technische Grundlage für selbstfahrende Modellautos, aber Blaulicht, Blinker und viele weitere Details waren serienmäßig nicht zu bekommen. Ganz zu schweigen von einer Steuerung, die viele einzelne Autos und Lkw unfallfrei über die Miniaturstraßen steuert.

Fahrzeuge suchen automatisch die Ladestation auf

Heute ziehen viele Hunderte Fahrzeuge ihre Bahn, gesteuert von Software, die Gerrit Braun programmierte. Sie suchen, wenn ihre Akkuladung zur Neige geht, eine der zahlreichen Ladestationen auf. Der Kontakt dort wird einfach über die beiden Außenspiegel hergestellt. Es drängt sich unweigerlich ein Gedanke auf: Elektromobilität in der realen Welt ist von solcher Perfektion weit entfernt.

Zügig füllt sich das Wunderland an diesem Freitagmorgen mit Besuchern. Jenseits der fertigen Anlagenteile herrscht hinter staubdichten Trennwänden rege Betriebsamkeit, dank großer Sichtfenster unter den interessierten Augen der Besucher: Der neueste Anlagenabschnitt Italien geht nach sechsjähriger Bauzeit seiner Vollendung entgegen. „Italien ist eine neue Qualitätsstufe in Sachen Modellbau“, ist Frederik Braun überzeugt. Und die bereits weitgehend fertiggestellten Teile mit pittoresken Berg- und Küstenorten unter der – künstlichen – Mittelmeersonne lassen diesen Anspruch schon deutlich erkennen.

Italien – Sehnsuchtsort der Deutschen – kommt ins Wunderland

Zugriff leicht gemacht: Chefmodellbauer Gerhard Dauscher zeigt eine Wartungsklappe im Italienteil. Foto: J. D. Billerbeck

Herr über die Schar der rund 60 Modellbauer und -bauerinnen – rund 40 % der Truppe sind weiblich – ist Gerhard Dauscher. Er ist von Anfang an dabei und hat in seinem früheren Arbeitsleben als Werkzeugmacher bei der renommierten Modellbahnfirma Arnold gearbeitet. Der Aufwand, der für Italien betrieben wurde, war beträchtlich. Und nicht nur in Sachen Bauleistung und Material: „Wir haben 35 Leute vom Modellbauteam nach Italien geschickt, damit sie dort die Atmosphäre schnuppern können“, erinnert sich Dauscher. Und zwar vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung. Denn im Wunderland wird es alle 15 min Nacht, die Lichter der Städte und Dörfer gehen an, die Autos zeigen ihre Beleuchtung. Alles erstrahlt im Glanz von Abertausenden Leuchtdioden. Kurz darauf dämmert der nächste Morgen und es wird wieder Tag auf der Anlage.

Unzählige kleine Szenen machen den Reiz der Modellbahn aus

Aufmerksame Besucher können Szenerien wie diese entdecken: In der Landschaft rund um Knuffingen macht eine Hochzeitsgesellschaft einen grausigen Fund. Im Bachlauf findet sich eine nackte Leiche, die Kriminalpolizei ermittelt mit Tauchern und Schaulustige versuchen, die Szene möglichst genau zu erfassen. Und das alles mit Plastikfigürchen im Maßstab 1:87 liebevoll und lebensnah gestaltet. „Diese Wasserleiche wurde lange diskutiert, war aber dann ein echter Durchbruch“, erinnert sich Frederik Braun. Das ganze Team habe daran gesehen, dass hier der Fantasie freier Lauf gelassen werden kann. „Ohne diese Szene ganz zu Beginn hätten wir uns vielleicht manches nicht getraut.“

Getraut haben sich die Wunderland-Erbauer vieles. Da finden in einem Hamburger Dachboden nahe der Reeperbahn Dreharbeiten zu einem Film statt – eindeutig für Erwachsene. Da zeigt ein Maulwurf dem Gärtner ein Schild mit der Aufschrift „Ätsch“, es kurvt im Skandinavien-Teil ein Schneemann im Cabrio durch die Gegend, Pippi Langstrumpf stemmt ihr Pferd in die Höhe und Supermann bewahrt im Hochgebirge der Schweiz einen Autofahrer vor dem Absturz.

Besucher starten Aktionen per Knopfdruck

Einblick: Das große Vorbild ist noch gar nicht eröffnet – im Wunderland kann die Elbphilharmonie sogar auf Knopfdruck geöffnet werden. Foto: J. D. Billerbeck

Dazu kommen die vielen „Druckknopfattraktionen“: Durch Tasten am Anlagenrand werden automatisierte Szenerien in Betrieb gesetzt. So startet auf dem Weltraumbahnhof Cape Canaveral ein Spaceshuttle oder die – im Wunderland natürlich längst eröffnete – Elbphilharmonie gibt ihr Inneres preis. In der großen Modellbauerwerkstatt zeigt Dauscher eine weitere Attraktion für den neuen Italien-Abschnitt: die Fiat-Garage. Da rollt ein kleiner roter Fiat 500 in die Werkstatt, die Türen schließen sich. Geheimnisvolles Licht zeigt an, dass etwas passiert, und kurz darauf kommt der rote Flitzer als Monstercar mit überdimensionierten Rädern wieder heraus.

Technische Meisterleistung: Der Flughafen im Wunderland

Drei Stunden nach Öffnung wird es für die Besucher immer schwerer, sich durch die jetzt gut gefüllten Gänge zu schieben. Da zeigt lautes Triebwerksgeräusch das Nahen eines großen Flugzeugs am Knuffingen Airport an. Majestätisch schwebt die Transportmaschine vom Typ Antonov An-124 ein, setzt mit lautem Quietschen der Räder auf der Landebahn auf und rollt dann gemächlich zu ihrer Entladeposition.

Take-off: Der Flughafen mitsamt startenden und landenden Maschinen ist eine technische Meisterleistung. Foto: J. D. Billerbeck

2011 eröffnet, gehörte dieser Abschnitt des Wunderlands bisher zu den technisch herausforderndsten, die Erarbeitung der Details hat insgesamt sechs Jahre gedauert. „Der Flughafen ist eine komplexe Steuerungsaufgabe“, erklärt Dauscher. „Erst fährt das Flugzeug aus eigener Kraft auf die Startbahn, dann übernehmen zwei Stäbe von unten und heben es ab.“

Auf einem fahrbaren Schlitten bewegen sich diese Stäbe synchron zum anrollenden Flugzeug und stellen durch Vertikalbewegung den korrekten Anstellwinkel beim Abheben ein. Dabei wird über Lautsprecher die originalgetreue Geräuschkulisse abgespielt und nach kurzer Zeit entschwebt das startende Flugzeug durch einen Vorhang den Blicken des Zuschauers. „Das Geheimnis“, so Dauscher, „sind die Schlitzschließer, die jeweils vor und hinter den Stäben die Landebahn wieder verschließen. Das muss alles perfekt ineinandergreifen.“

Leitzentrale ist das Zentrum, von dem aus alles gesteuert wird

Hier laufen alle Fäden zusammen: In der Leitzentrale werden alle Anlagenteile überwacht. Bei Störungen können fast alle Punkte mit Kameras angefahren werden und so Reparatur- und Wartungsarbeiten koordiniert werden. Foto: J. D. Billerbeck

Jedes Flugzeug, jeder Zug, jedes Auto im Wunderland gehorcht seinem im Zentralrechner abgelegten Fahrauftrag. Auf Monitoren in der Leitzentrale wird alles überwacht und bei Störungen sofort reagiert. Die Technik ist das Reich von Joachim Jürs. Der gelernte Industriemeister für Elektrotechnik weiß: „Die Anlage ist wie ein Industriebetrieb: Sie muss laufen und das möglichst ohne Unterbrechungen.“

Italien beschäftigt auch ihn, denn er muss den vom Modellbauteam entworfenen Gleis- und Straßenplänen das korrekte elektrische Leben einhauchen. Nicht immer einfach: Fantasie der Modellbauer und technische Gegebenheiten müssen einander angepasst werden. Der Kopfbahnhof Stazione Termini macht Jürs noch Kopfzerbrechen. Denn dort können die Reinigungsfahrzeuge nicht durchfahren und somit bekommt sein größter Feind – der Staub – dort schnell eine Chance, für Probleme im Betrieb zu sorgen. Aber auch diese werden gelöst werden. So wie es nach vielen Versuchen gelungen ist, den Vesuv mit eindrucksvollen Lavaströmen als aktiven Vulkan zu zeigen.

Sehnsuchtsort: Malerische Küsten- und Bergstädte prägen das Bild des neuen Wunderland-Anlagenteils Italien. Foto: J. D. Billerbeck

Frederik Brauns Traum vom Wunderland ist jedenfalls noch lange nicht ausgeträumt: Mit dem Brückenschlag über das Fleet – den Kanal zwischen den Speicherhäusern – soll der Weg nach England frei werden, das ja bekanntlich auch in der realen Welt jenseits des Kanals liegt. Und man fragt sich sofort, welche neuen Szenarien sich die Modellbauer für eine Nacht im Londoner Nebel ausdenken werden.

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