Mobilität neu definiert
Auf dem Aachener Kolloquium für Fahrzeug- und Motorentechnik stand eben jene etwas im Hintergrund. Dafür diskutierten die Ingenieure verstärkt über neue Mobilitätskonzepte für den urbanen Raum.
Nichts als Zufall war es, aber durchaus passend: Während in Berlin Verwaltungsrichter über Fahrverbote für Dieselfahrzeuge verhandelten, präsentierten Ingenieure in Aachen ihre Visionen für den Stadtverkehr der Zukunft.
„Die autogerechte Stadt ist Geschichte“, sagte Wolf-Henning Scheider, Chef des Zulieferers ZF, gleich zu Beginn des Aachener Kolloquiums für Fahrzeug- und Motorentechnik. Die Automobilindustrie solle versuchen, sich das Thema „urbane Mobilität“ nicht von den Städten aus den Händen nehmen zu lassen, mahnte er.
Einen für alle Kommunen passenden Lösungsweg gebe es allerdings nicht. Stattdessen präsentierte der ZF-Chef verschiedene Kategorien von Großstädten samt der zugehörigen Mobilitätsstrategie. In dicht besiedelten Städten wie Hongkong, die eine Bevölkerungsdichte und ein gutes ÖPNV-Angebot aufweisen, würden privat betriebene Pkw weitgehend verschwinden. Er sieht allerdings eine große Chance für fahrerlose Robotertaxis wie den E-go Mover, der ab kommendem Jahr in Aachen produziert werden soll.
In Städten wie Bangkok, wo der öffentliche Verkehr weniger stark ausgebaut ist, sieht Scheider hingegen Potenzial für den Ausbau der Mikromobilität. Am Beispiel eines neuen Antiblockiersystems für Pedelecs zeigte er, wie die Autobranche solche Mobilitätsformen sicherer gestalten kann.
In zersiedelten Ballungsräumen wie Los Angelos spiele der Individualverkehr hingegen auch künftig eine wichtige Rolle – allerdings lokal emissionsfrei. Den Plug-in-Hybridantrieb sieht Scheider daher nicht als Brückentechnologie, sondern als idealen Antrieb für ein Familienauto.
Wie die Zusammenarbeit zwischen Automobilindustrie und Kommunen verbessert werden könnte, stellte Steven Armstrong, der Europachef von Ford, dar. Gemeinsam mit Uber und Lyft errichtet der Autohersteller die Datenplattform „Shared Streets“ (deutsch: geteilte Straßen). Auf der Plattform sollen Verkehrsdaten gesammelt und den teilnehmenden Kommunen kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Diese könnten beispielsweise genutzt werden, um die Verkehrsplanung zu optimieren oder auch Mautsysteme zu betreiben, die Gebühren abhängig von der aktuellen Straßenauslastung erheben.
Ein erstes Pilotprojekt sei in London bereits gestartet worden. Ganz uneigennützig ist die Initiative von Ford nicht. Denn im Geschäft mit Mobilitätsdienstleistungen sehe man sich nicht nur als Hardwarelieferant, sondern wolle auch die Fähigkeiten besitzen, komplette Flotten managen zu können.
Während Ford in Europa bislang nicht als Mobilitätsdienstleister auftritt, bildet die Allianz von Car2go (Daimler) und Drive Now (BMW) mit insgesamt mehr als 1,6 Mio. Kunden den größten deutschen Carsharinganbieter. Elmar Frickenstein, bei BMW für autonomes Fahren verantwortlich, versprach in Aachen „eine ganz neue Mobilität“. Schon bald könne der Kunde sein Auto rufen. Die dafür notwendige Technik entwickelt der bayrische Hersteller mit Hochdruck: Bereits im Jahr 2021 will man das erste Serienfahrzeug auf den Markt bringen, dass einen Automatisierungsgrad der Stufe vier aufweist. In einem solchen Auto darf sich der Fahrer dezidiert anderen Aufgaben widmen.
Um den ehrgeizigen Zeitrahmen einzuhalten, hat Frickenstein die Softwareentwicklung in Unterschleißheim neu organisiert. 55 Teams arbeiteten nun mit agilen Methoden. „Alle 14 Tage haben wir einen neuen Stand“, erläutert der BMW-Manager. „Was gut ist, übernehmen wir sofort.“ Die Basistechnologien für das autonome Fahren entwickle man in Partnernetzwerken, zu denen mit FiatChrysler auch ein weiterer Autohersteller gehört.
Die Sensorik soll sogar standardisiert werden. Ob sich ein BMW wie ein BMW fährt, sei künftig allein eine Frage der Aktuatorik. Den anwesenden Ingenieuren machte er Mut, den Wandel in der Automobilindustrie als Chance zu begreifen. „Wir schenken den Menschen Zeit“, so Frickenstein. „Wie cool ist das denn?“
Auch in den mehr als 100 Fachvorträgen des Kolloquiums spielten neue Mobilitäts- und Fahrzeugkonzepte eine wichtige Rolle. So stellte Timo Woopen von der RWTH Aachen eines der größten deutschen Verbund-Forschungsprojekte vor. In „Unicar agil“ arbeiten 15 Hochschulinstitute zusammen, um das Stadtfahrzeug der Zukunft zu definieren. Bis Anfang 2022 sollen vier fahrbereite Prototypen entstehen, die allesamt autonom und elektrisch fahren. Kern des Projektes ist aber nicht die Hardware, sondern die Erforschung neuer Software- und Elektronikarchitekturen. So setzt das Hochschulauto für alle Fahrfunktionen auf eine diensteorientierte Softwarestruktur, wie sie in der Unternehmens-IT heute bereits üblich ist.
Dass das Fahrzeugkonzept eng mit dem Geschäftsmodell des Mobilitätsdienstleisters verknüpft ist, zeigte der Vortrag von Schaeffler-Manager Martin Laumann über den E-Mover. Der soll durch einen Wechselaufbau sowohl für den Personentransport als auch als Lieferwagen zu nutzen sein. „Damit lösen wir das Problem, dass eine optimale Auslastung durch den Personentransport nur morgens und in den Nachmittagsstunden gegeben ist“, erläuterte Laumann.
Eine Besonderheit des Schaeffler-Konzepts besteht zudem darin, dass Antriebs- und Fahrwerkskomponenten in vier unabhängig ansteuerbaren Technikmodulen untergebracht sind. Jedes Modul besteht aus einem in eine 14-Zoll-Felge integrierten Radnabenmotor mit 13 kW Dauerleistung, einem Lenkungsaktor sowie Federung, Dämpfung und Radaufhängung. Bei niedrigen Geschwindigkeiten lassen sich die Räder um 90 Grad einschlagen, sodass das Fahrzeug quer in enge Haltebuchten einfahren kann. Durch gegenläufiges Lenken der Räder an Vorder- und Hinterachse ergibt sich ein Wendekreis von nur 5,5 m.
„Innerstädtischer Raum“, so das Argument von Laumann, „ist kostbarer denn je“. Noch weniger Raum verbraucht ein von Audi vorgestelltes Skateboard mit einer Halte- und Lenkstange. Noch handelt es sich dabei um einen Prototypen. Doch Konzeptentwickler Thorsten Schrader ist davon überzeugt, dass der Premiumanspruch eines deutschen Autoherstellers sich auch auf die neue urbane Mobilität übertragen lässt. „Wir müssen allerdings weniger die Technik in den Vordergrund stellen, sondern das Erlebnis des Nutzers“, so die Botschaft des Konstruktionstechnikers.