Einheitlicher Anschluss für die Industrie
Industrie 4.0 erfordert den Austausch von Daten unterschiedlicher Prioritäten. Lösungsanbieter arbeiten an einem einheitlichem Standard.
Wenn es schnell gehen muss in der industriellen Automation, beispielsweise weil Antriebe synchron laufen müssen, dann stoßen Standardkommunikationsprotokolle an ihre Grenzen. Für eine durchgehend vernetzte Produktion über die gesamte Wertschöpfungskette und Industrie 4.0, die zuverlässige Übertragung aber unerlässlich. Die Hoffnungen der Industrieautomatisierer liegen nun im Time-Sensitive Networking (TSN), einem internationalen Standard. Er soll die Brücke schlagen zwischen Fabrikautomation und Büro- sowie Cloud-Anwendungen.
Glossar
5G: fünfte Generation der Mobilfunknetze, mit höchsten Datenraten und Latenzzeiten unter 1 ms
E/A bzw. I/O: die „Ein- und Ausgabe“ verknüpft laufende Computeranwendungen mit anderen Anwendungen und Benutzern
Ethernet: spezifizierte Hard- und Software für kabelgebundene Datennetze
Internetprotokoll (IP): in Computernetzen weit verbreitete Protokollfamilie zur Versendung von Datenpaketen
Gateway: Komponente (Hard- oder Software), die eine Verbindung zwischen zwei Systemen herstellt
LAN: Lokal Area Networks sind lokale, kabelgebundene Netzwerke
Latenz: Verzögerung in der Telekommunikation
OPC UA: Open Platform Communications Unified Architecture ist die aktuelle Spezifikation der standardisierten Softwareschnittstelle für den Datenaustausch zwischen Automatisierungskomponenten unterschiedlicher Hersteller.
QoS: Quality of Service, Güte eines Kommunikationsdienstes aus der Sicht der Anwender
TSN: Time-Sensitive-Networking definiert Mechanismen zur (zeitkritischen) Übertragung von Daten über Ethernetnetzwerke und umfasst eine Reihe von Standards (IEEE 802.1)
Ein erster Schritt in die Richtung war das Ethernet, dass sich für kabelgebundene Netzwerke (LANs) innerhalb von 40 Jahren als weltweiter Standard in der IT etabliert hat und aufgrund seiner Offenheit auch in industrielle Umgebungen eingezogen ist. Das Standardethernet scheiterte jedoch daran, Datenpakete durchgängig in Echtzeit zu übertragen. Deshalb blieb der Bereich der harten Echtzeitkommunikation, wie sie bei der Synchronisation von Servoantrieben im Millisekundentakt oder zur schnellen Datenübertragung von Sensoren gefordert werden, bisher unterschiedlichen Kommunikationsprotokollen vorbehalten. Beispiele sind Profinet, Ethernet/IP, Powerlink, Ethercat, Sercos und Modbus.
Die ethernetbasierten Feldbusse benötigen teilweise eine spezielle Hardwareunterstützung, die zu den Netzwerktechnikstandards des Institute of Electrical and Electronics Engineers IEEE 802.1 und 802.3 aber nicht konform ist. Damit sind für die Kommunikation zwischen Maschinen und Systemen unterschiedlicher Hersteller spezielle Schnittstellen und Gateways notwendig. Das bedeutet: Eine offene und durchgängige, vertikale und horizontale Integration ist in dem Fall nur über Umwege möglich.
Inzwischen gehen die Bestrebungen dahin, Ethernet so zu erweitern, dass sowohl zeitkritische Datenströme als auch nicht kritische Datenströme durch das gesamte Netz transportiert werden können, ohne dass Echtzeitcharakteristik und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt werden. Basis dafür ist das Time-Sensitive Networking. TSN erlaubt erstmals eine zeitgesteuerte und deterministische Übertragung von echtzeitkritischen Nachrichten über Standard-Ethernet-Hardware und den Aufbau eines weit verzweigten Netzes.
Dazu wurde der Ethernetstandard IEEE 802.1 durch eine Reihe von Unterstandards ergänzt. Diese regeln das Miteinander von kritischen und nicht-kritischen Daten sowie die Pfadsuche und Reservierung von Leitungskapazität, um Datenverluste durch Überlastung zu vermeiden und die Latenz zu verringern (siehe Grafik). Damit das gesamte Netzwerk präzise im gleichen Takt arbeitet, haben alle angeschlossenen Geräte eine gemeinsame Synchronisierung.
„Mit Ethernet TSN entsteht ein echtzeitfähiges Netzwerk, auf dem für den jeweiligen Anwendungsfall optimierte Protokolle konvergent genutzt werden können“, erklärt Sebastian Schriegel vom Fraunhofer IOSB-INA. So können z. B. OPC-UA-Protokolle für echtzeitfähige Kommunikation zwischen Steuerungen, Profinet für Fern-Ein-/Ausgänge inklusive Antriebssteuerung und Videoübertragungen für Qualitätssicherungsanwendungen in einem TSN-Netzwerk gleichzeitig übertragen werden. Das geschieht mit einer zugesicherten Quality of Service . Die QoS wird bestimmt durch Transportpriorität, Latenzzeit und Deadline.
Im Moment gibt es jedoch unterschiedliche Auffassungen, wie weit die OPC-UA-Kommunikation reicht. Siemens und Beckhoff Automation bevorzugen die Kommunikation von der IT-Welt bis zur Steuerung und die Kommunikation von Controller zu Controller. Auf der anderen Seite steht mit den „Shapern“ eine Gruppe von Unternehmen wie ABB, Bosch Rexroth, B&R, Cisco, GE, Kuka, Rockwell Automation und National Instruments , die eine Echtzeit- und Sensor-to-Cloud-Lösung unterhalb der Steuerungsebene bevorzugen.
Bringt der neue Anlauf den einheitlichen Standard? Ganz gleich wie die Hersteller sich entscheiden, wichtig ist für Anwender, dass mit TSN erstmals ein einheitlicher Netzwerkstandard sowohl für die Produktions- als auch für die IT-Netzwerke zur Verfügung steht. Einiges spricht dafür, dass sich OPC UA over TSN am Markt durchsetzen wird.
Stefan Schönegger, Vice President Strategy and Innovation bei B&R, sagt: „Das Marktfeedback auf unsere OPC-UA-TSN-Initiative ist überwältigend. Eine einheitliche Lösung ist genau das, was der Markt schon lange sucht und auch dringend benötigt.“ Die diesjährige SPS/IPC/Drives werde deshalb ganz klar im Zeichen der bevorstehenden Serieneinführung und des globalen Roll-Out von OPC UA over TSN stehen.
Ungeachtet dessen werden sich auch in Zukunft die Hersteller differenzieren wollen, aber nicht mehr auf der Ebene der Kommunikation. Mit einer durchgängigen Kommunikation liegt jetzt der Fokus auf dem Wissen, das aus den Daten gewonnen wird. Dies ist dann auch der Bereich, in dem die nächsten Innovationen der Automatisierung liegen werden.
Paul Brooks, Business Development Manager bei Rockwell Automation, erklärt dagegen ganz pragmatisch, dass das Ende der Feldbusära durch Software und Analytik im Allgemeinen vorangetrieben werde und nicht durch OPC UA und TSN als Feldebenentechnologie. Denn es würden immer mehr Daten mit einem größeren Bedarf an Zuordnung von Metadaten und Kontext benötigt. „Kommunikationstechnologien müssen dies unterstützen, wenn sie auch in Zukunft Bestand haben sollen“, macht Brooks deutlich.
Die Differenzierung auf Systemebene wird laut Brooks zunehmend dadurch erreicht, dass Softwareanwendungen Daten von Geräten (einschließlich Controllern) unterschiedlich verarbeiten und Informationen kontextbezogen mobilen Entscheidungsträgern präsentieren, anstatt durch direkte Interaktion von Controllern und Endgeräten.
Die Verfügbarkeit werde vor allem durch die Kundennachfrage vorangetrieben, zeigt sich Brooks überzeugt. Es sei davon auszugehen, dass ein Sensor, der weder über eine Feldbus- noch eine Industrial-Ethernet-Schnittstelle verfüge, in nächster Zeit auch nicht in die komplexe und teure TSN-Produktpalette implementiert werde, resümiert Brooks.
Siemens wird die TSN-Basis-Technologie sowohl in Verbindung mit Profinet als auch mit OPC UA nutzen. „Wichtig ist, dass bei der Standardisierung von Profinet in der Profibus-Nutzer-Organisation und OPC Foundation darauf geachtet wird, dass die verschiedenen höherwertigen Protokolle auf einem gemeinsamen, konvergenten TSN-Netzwerk parallel betrieben werden können“, erklärt Heinz Eisenbeiss, Head of Simatic Marketing, Siemens Digital Factory Division. Dazu habe Siemens die IEC/IEEE 60802 Standardisierungsgruppe ins Leben gerufen. Automatisierer aus Asien, Europa und den USA arbeiten hier mit.
„Neben Profinet basierend auf TSN werden wir uns auch in der OPC-Foundation engagieren, um OPC UA over TSN für den Einsatz in der Feldebene gemeinsam mit namhaften Playern der Automatisierungsbranche zu standardisieren“, erklärt Eisenbeiss weiter.
Beckhoff sieht in TSN eine ergänzende Echtzeitkommunikation über Standardethernet als Option für die eigene Automatisierungstechnik. Dass dies funktioniere, habe das Unternehmen schon 1996 mit einem eigenen Real-Time-Ethernet-Protokoll und in Verbindung mit dem Buskoppler BK9000 gezeigt. „Dementsprechend unterstützt Beckhoff die Etablierung von TSN als gemeinsame Technologiebasis aller Feldbusorganisationen und zeigt mit dem Buskoppler EK1000 die Kompatibilität von Ethercat zu TSN“, betont Guido Beckmann, Senior Management Control System Architecture bei Beckhoff Automation.
Mit dem Buskoppler lassen sich Ethercat-Segmente einfach an beliebige TSN-Switche (Verteiler) anschließen. „Auf diese Weise kann der Maschinenbauer von der Steuerungsebene und höher auf die TSN-Standards und von der darunterliegenden Feldebene auf Ethercat zurückgreifen“, sagt Beckmann.
Derzeit arbeiten verschiedene Hersteller von industriellen Endgeräten und Switches daran, ihre Geräte TSN-fähig zu machen. Dazu treffen sich Entwickler und testen in einer Art LAN-Party, ob und wie gut ihre Geräte mit denen anderer Hersteller zusammenwirken.
„In der wichtigen Startphase vor rund zwei Jahren hat Bosch Rexroth als Host des europäischen Testbeds für TSN im Industrial Internet Consortium (IIC) Pionierarbeit geleistet, regelmäßig bei Plugfesten die Geräte verschiedener Hersteller zusammengeschaltet und so die praktische Umsetzbarkeit und Interoperabilität verifiziert“, erklärt Thomas Brandl, Product Owner Communication Solutions bei Bosch Rexroth und fügt hinzu, dass inzwischen die Zeitsynchronisation nach 802.1AS und die Steuerung der Zeitabläufe nach 802.1 Qbv in entsprechenden Prototypen bereits umgesetzt sind.
„Für die Konfiguration von TSN-Netzwerken ist die Spezifikationsarbeit aber noch nicht vollständig abgeschlossen“, stellt Thomas Brandl, Product Owner Communication Solutions bei Bosch Rexroth, fest. Die herstellerübergreifende Arbeit im IIC-Testbed und bei den Plugfesten machte deutlich, dass die Anforderungen der industriellen Kommunikation mit OPC UA over TSN abgedeckt werden können und alle Teilnehmer eine hohe Bereitschaft haben, an einem zukünftigen, gemeinsamen Ökosystem zu arbeiten“, erklärt Brandl.
Auch Siemens hat ein TSN-Testbed beim Labs Network Industrie 4.0 (LNI 4.0) ins Leben gerufen und testet in Augsburg zusammen mit anderen Herstellern vor allem den dynamischen Aspekt der TSN-Netzwerkkonfiguration.
Um die Implementierung im TSN-fähigen Netzwerk zu vereinfachen, entwickelten Forscher am Fraunhofer-Institut für Photonische Mikrosysteme (IMPS) in Dresden einen TSN-Chip-Funktionsblock (IP-Core). Dazu Frank Deicke, Geschäftsfeldleiter „Wireless Microsystems“ am Fraunhofer IPMS: „Ein wichtiges Element von TSN ist die Synchronisierung der Zeit, da das gleiche Zeitverständnis aller Geräte im Netzwerk eine Grundvoraussetzung für die deterministische Datenübermittlung ist.“ Der IP-Core bestehe deshalb aus Modulen zur Zeitsynchronisierung, einer Warteschlagenverwaltung und einer Hardware-Adresse. Er wurde bei Plugfesten mehrmals erfolgreich mit Geräten anderer Hersteller getestet. ciu
„Bis allerdings eine sehr breite Verfügbarkeit von TSN-Geräten gegeben ist, um die TSN-Eigenschaften Protokollkonvergenz und Flexibilität auch für zeitsensitive Protokolle im Sinne von Industrie-4.0-Applikationen nutzen zu können, wird es noch eine Weile dauern“, sagt Sebastian Schriegel vom Fraunhofer IOSB-INA. „Migrationsstrategien ermöglichen aber eine schrittweise Einführung von TSN, wie die auf den vergangenen Messen gezeigten Profinet-over-TSN-Demonstrationen und Forschungsarbeiten zur TSN-Retrofitting zeigen.
Den Stand der Technik wollen auf der SPS/IPC/Drives in Nürnberg verschiedene Hersteller mit TSN-Prototypen verdeutlichen. Dann kommunizieren bei Siemens z. B. mehrere Simatic-Steuerungen mit je einem unterlagerten Roboter und synchronisieren diesen. Im Moment geschieht dies mit der Controller-Controller-Kommunikation auf Basis von OPC UA und TSN und einem Plug&Work-Konzept bei der Netzwerkkonfiguration. Das bedeutet, dass sich die Komponenten ähnlich wie beim Einstecken eines USB-Gerätes in einen Computer miteinander verständigen und aufeinander einstellen. „Folgen wird Profinet basierend auf TSN in der Feldebene“, erklärt Heinz Eisenbeiss. Am Stand der Profibus-Nutzerorganisation (PNO) sollen dazu erste Machbarkeitsstudien mit einer taktsynchronen, herstellerunabhängigen Applikation zu sehen sein.