Flut im Ahrtal: „Da gehört keine Siedlung hin“
Der Geograf Jürgen Herget von der Universität Bonn ist Spezialist für die Rekonstruktion von Hochwassern. Seine Erkenntnisse aus der Flut im Ahrtal vom 14. Juli 2021 sind unbequem für Politik und Bevölkerung.
VDI nachrichten: Unmittelbar nach der Flutkatastrophe wusste man nicht, welche Wassermengen im Ahrtal abgegangen sind. Was haben Sie inzwischen herausfinden können?
Jürgen Herget: Die starke Hochwasserwelle hat alle Pegel zerstört. Für die Rekonstruktion des Abflusses am 14. und 15. Juli haben wir deshalb Wasserstandsanzeiger gesucht, die man im Gelände dann sehen kann.
Wie gehen Sie auf Spurensuche?
Wir schauen, wie hoch Treibgut – wie Müll oder Grashalme im Astwerk von Büschen und Bäumen am Ufer – hängt. Das kann auch der Lehmschleier an Hauswänden sein, wobei wir hier auch den kapillaren Aufstieg im Mauerwerk berücksichtigen müssen. Da gibt es natürlich dann nicht die eine Stelle und die eine Marke, sondern man stellt mehrere Indikatoren zusammen, mit denen man die Höhe des Wasserstands identifizieren kann.
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Wie unterschiedlich hoch war der Wasserstand im Ahrtal?
Durch das zahlreiche Treibgut staute sich das Wasser auf. Wenn dieses Treibgut den Durchlass unter Brücken oder auch in Straßen blockierte, führte das zu einem örtlich höheren Wasserstand als in den Bereichen, in denen das Wasser frei und ohne Rückstau abfließen konnte. Unsere Rekonstruktion des Wasserstands haben wir daher in den Abschnitten gemacht, die nicht durch Rückstau beeinflusst waren.
Rückstaus bei einer Flut treten nur lokal auf, eine Vorhersage ist nicht möglich
Wenn man künftige Gefährdungslagen abschätzen will, sollte man dann nicht auch mögliche Orte für Rückstau berücksichtigen?
Der Rückstau tritt immer nur lokal auf. Man kann nicht vorhersagen, wo wie viel und welches Treibgut im Falle eines nächsten Hochwassers vorhanden ist. Wo die Rückstaus auftreten werden, hängt auch davon ab, wie der Wiederaufbau gestaltet wird.
Deshalb würden derartige Modellierungen völlig ins Leere laufen. Wir haben daher den Abfluss, also das Volumen pro Zeit in Kubikmetern pro Sekunde, rekonstruiert – und nicht den örtlichen Wasserstand.
Sie haben sich auch das historische Hochwasser von 1804 angesehen. Was fiel Ihnen im Vergleich zu 2021 auf?
Wir haben gesehen, dass der gleiche Abfluss damals einen um 1,5 m bis 2 m niedrigeren Wasserstand generiert hatte.
Welchen Grund gibt es dafür?
Wir haben mit einer dichter gewordenen Bebauung im Talboden die Fläche, die der Hochwasserwelle zur Verfügung stand, reduziert. Deshalb musste der gleiche Abfluss zwangsläufig zu einem höheren Wasserstand führen.
Im Ahrtal gab es eine Sturzflut, wie wir sie bisher nur aus dem Mittelmeerraum kennen
Wie hoch stand das Wasser im letzten Jahr?
Teilweise hatten wir 2021 Wassertiefen von 6 m über dem Talboden. Lokal gab es auch höhere Wasserstände durch einen starken Rückstau. Denken Sie daran, mit welcher Energie das Wasser durch den Straßentunnel an der B267 bei Altenahr strömte. Der Tunnel war bis zur Decke voll, schwankte jedoch sehr stark.
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Wie kam es zu den Schwankungen?
Wenn die Barriere eines örtlichen Rückstaus dem Wasserdruck nachgibt, entsteht ein sogenannter pulsierender Abfluss mit einzelnen hohen Wellen. Diese Wellen ergänzen das Bild einer ganz klassischen Sturzflut, wie sie aus dem Mittelmeerraum bekannt ist und bei uns bisher relativ selten zu beobachten war.
Die Höhe des Wasserstands sagt nichts über Gefährlichkeit aus?
Das ist der Punkt. Die Schäden und die leider überraschend hohen Opferzahlen sprechen da eine deutliche Sprache.
Fluten mit großen Mengen an Treibgut lassen sich schlecht modellieren
Lassen sich künftige Hochwasser denn so modellieren, dass sie eine brauchbare Aussage für den Katastrophenschutz liefern?
Wir müssen mit neuen Parametern rechnen, die bisherigen Modellen sind hier zu einfach. Während wir bei großen Flüssen einen allmählichen Anstieg von Hochwasserwellen haben, haben wir in Kombination mit dem Rückstau durch Treibgut etwas ganz Abruptes.
Das Wasser selbst übt einen gewissen Druck aus, doch wenn jetzt Baumstämme, Autos oder Container unterwegs sind, wirkt auch deren kinetische Energie auf eine Hauswand ein, wenn sie dagegen prallen. Deshalb ist in solchen Fällen die Wand eingestürzt, obwohl sie dem normalen Wasserdruck möglicherweise standgehalten hätte.
Wie anspruchsvoll ist es, diese Dynamik in den Hochwassermodellen einzufangen?
Eine weitergehende Modellierung und Simulation sind wegen der vielen Eingabeparameter schwer. Mit welchem Treibgut ist wo zu rechnen? Das lässt sich nicht sinnvoll modellieren. Man kann Annahmen treffen, doch die sind sehr variabel zu handhaben.
Wo im Ahrtal wieder aufgebaut wird ist eine politische Entscheidung
Wie sprechen Sie über diese Unsicherheiten in der Modellierung mit der Politik?
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Jürgen Herget, Professor für Physische Geographie/Geomorphologie an der Universität Bonn, untersuchte mit seinem Mitarbeiter Thomas Roggenkamp die Ursachen und den Verlauf des Hochwassers an der Ahr vom 14. Juli 2021. Das Foto zeigt ihn am Talboden des Ahrtals nahe des Orts Fuchshofen. Foto: Thomas Roggenkamp
Anders gefragt: Wie sinnhaft ist ein Wiederaufbau der Siedlungen im Tal, wenn die doch im Hochwassergebiet stehen? Das ist eine rein politische Entscheidung. Fachwissenschaftlich ist die Antwort eindeutig: Da gehört keine Siedlung hin.
Und jetzt?
Wer jetzt den Wiederaufbau im Ahrtal infrage stellt, muss sich konsequenterweise auch um den Rückbau anderer Städte bemühen, die ins Hochwasser gebaut sind. Das betrifft zum Beispiel das gesamte rechtsrheinische Köln. Das halte ich für vollkommen unrealistisch. Deshalb ist die Fachwissenschaft nicht unbedingt der Ratgeber, sondern das ist eine politische Entscheidung.
Heute Planung an Flüssen sollten historische Hochwassermarken berücksichtigen
Mehrere Klimawissenschaftler fordern jetzt mehr Computerpower für noch bessere Klimamodelle, die auch Starkregen berücksichtigen sollen. Welchen Sinn macht eine solche Modellierung, wenn die letztendliche Entscheidung nicht auf Basis dieser Modelle getroffen wird?
Die Forderung halte ich für einen wünschenswerten Erkenntnisgewinn. Aber ein derartiger Starkregen, wie wir ihn letztes Jahr beobachtet haben, ist kleinräumig so variabel, dass er auch mit größerer Rechenkraft und besseren Modellen kaum vorhersagbar ist. Ähnlich wie bei Gewitterzellen lassen sich nur sehr kurzfristig brauchbare Prognosen treffen.
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Bei dieser Modellierung geht es doch auch um eine mittel- und langfristige Städteplanung, etwa um Rückstauräume einplanen zu können.
Diese Erkenntnis haben wir schon längst. Da genügt es, sich die Magnituden historischer Hochwassermarken anzusehen. Seit der EU-Hochwasser-Rahmenrichtlinie von 2007 besteht die Verpflichtung, derartige Werte zu berücksichtigen. Dass das nicht gemacht worden ist, ist ein anderes Thema.
Wie wollen Sie mit dem Blick zurück in die Geschichte den Faktor Klimawandel berücksichtigen?
Wir hatten in der Vergangenheit ein anderes Klima, in dem es zum Beispiel stärker geregnet hat als heute. Das ist ja lange Zeit das Argument gewesen, historische Hochwasser nicht zu berücksichtigen. Doch wenn wir die historische Magnitude sowohl nach oben zu Hochwasser als auch nach unten für Niedrigwasser berücksichtigen, können wir besser sehen, was Einzugsgebiete von Flüssen in unseren Breiten generieren können. Da kommen wir auch ohne Modellierungen und Simulationen aus.
Wollen Sie damit sagen, dass es früher extreme Wetterereignisse gab, an denen wir uns heute orientieren können?
Eindeutig ja. Die Ereignisse fielen jedoch in unterschiedlichen Flusseinzugsgebieten jeweils anders aus. Denn ein und derselbe Niederschlag kann in verschiedenen Einzugsgebieten mit unterschiedlichem Abfluss einen unterschiedlichen Wasserstand erzeugen.
Wie regelmäßig extreme Fluten sind, zeigt sich erst im Rückblick
Das heißt also, wir müssen immer die Topographie vor Ort einbeziehen. Wie viel wissen wir dazu?
Im Moment fehlt das systematische Inventar der historischen Hochwasser in Deutschland – für alle Flüsse. Es gibt zwar lokal dazu einzelne Studien, die noch nicht zusammengestellt sind. Da arbeiten wir gerade dran. Weil sich die Einzugsgebiete der Flüsse in der Zwischenzeit geändert haben, ist es allerdings recht aufwendig einen Abfluss in historischer Zeit zu rekonstruieren.
Wann wird denn ein solches Fluss-Wasserstandsinventar fertig sein?
Für den deutschen Rhein und seine wichtigsten Nebenflüsse z. B. geht die Projektlaufzeit bis Ende 2025.
Und was sagen uns die historischen Werte zur Häufigkeit von Extremwetterereignissen?
Ich bin ausgesprochen skeptisch, was die Abschätzung von Wiederkehrintervallen von Hochwasser während des aktuellen Klimawandels angeht. Die dazu notwendige Kenntnis der zeitlichen Verteilung der Ereignisse kennt man erst im Rückblick – da fällt eine Prognose für die Zukunft natürlich schwer.
Brauchen wir nicht nur Hochwasser-, sondern auch Dürrekarten?
Dürre ist das andere Extrem. Aber auch Tornados können wir derzeit häufiger beobachten. Anhand des historischen Inventars lassen sich solche möglichen Naturgefahren unter veränderten Klimaverhältnissen berücksichtigen.